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Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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hatte, dass Lebensmittel wertvoll waren und man diese niemals wegwerfen durfte, drückte ich meine Sterne, so gut es ging, mit den Fingerkuppen zurecht und schob sie in den Ofen.
     
    »Wie du riechst!« Ruth warf ihren Kopf demonstrativ in den Nacken und schnupperte wie ein Hund, der eine Fährte aufgenommen hatte. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, du hättest   … Aber das ist ja zu absurd.« Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort, Lindenblüten für eine Teemischung abzuwiegen.
    Von meinem missglückten Backversuch wollte ich ihr nicht berichten, dann hätte ich ihr auch erklären müssen, zu welchem Zweck ich diesen Versuch unternommen hatte. Ich seufzte, zog meinen weißen Kittel über. Jetzt war ich gezwungen, mir eine andere Aufmerksamkeit für den Gewürzmann auszudenken. Aber welche?

Während der nächsten zwei Tage arbeitete ich wie besessen, verfasste eine ganze Reihe von Haikus und spielte mit dem Gedanken, wieder »etwas Richtiges« zu schreiben. Vielleicht den Roman, von dem ich so lange nur fantasiert, für den mir aber bisher der Mut gefehlt hatte. Oder – je nachdem, wie man es sehen wollte – auch die Zeit. Immerhin musste ich mich ranhalten, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, was sich aufgrund des in den letzten Jahren um ein Drittel geschrumpften Romanheftemarktes nicht unbedingt einfach gestaltete. Ich wollte den Stand, den ich mir als Tamara Sommerblum erarbeitet hatte, um jeden Preis halten, und das bedeutete in erster Linie Disziplin und Pünktlichkeit. So absurd es klang: Die Konkurrenz stand vor der Tür Schlange. In Momenten der Muße fragte ich mich natürlich, ob ich bis ans Ende meines Autorendaseins Tamara Sommerblum sein wollte.
    Es war inzwischen Jahre her, dass Jan und Uli, |57| meine beiden Freunde (mehr hatte ich nicht), mich gefragt hatten, wann mein nächstes Buch herauskomme, wann mein Roman fertiggestellt sei. Ich wusste nicht, was sie gedacht hatten, aber ich wagte zu behaupten, dass sie tatsächlich angenommen hatten, ich würde immer noch von meinem Jahre zuvor erschienenen Erzählband leben. Dass ich Tamara Sommerblum war, wussten sie nicht. Ich hatte es ihnen nie erzählt, warum auch? Jan war Automechaniker und hätte wahrscheinlich noch nicht einmal einen Unterschied festgestellt. Und Uli hätte sich kaputtgelacht.
    Als ich an jenem Tag durch die Straßen ging, fällte ich eine Enscheidung: Wenn heute wieder ein Gläschen auf dem Grab stünde, würde ich morgen mit meinem Roman beginnen.
    Je näher ich dem Friedhof kam, desto langsamer ging ich, und ich meinte, ein leises Summen in meinem Kopf zu spüren. Worüber um Himmels willen sollte ich schreiben? Was für Geschichten gab es noch – außer dem Schicksal alleinerziehender Mütter, das sich dank eines wohlhabenden und attraktiven Mannes zum Besten wandte? War ich überhaupt noch in der Lage, einen Text zu verfassen, der nicht zur Hälfte aus Adjektiven bestand?
    Ich öffnete die Friedhofspforte. Wie immer |58| quietschte sie leise und wie immer war ich in diesem Teil des Friedhofs allein. Auf einmal wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eine leere Grabplatte vorzufinden, blank und säuberlich, ohne ein einziges Glas und nur mit den Steinen besetzt, die ich bei meinen jeweiligen Besuchen daraufgelegt hatte. Aber es kam anders.
    Schon von Weitem sah ich es: das Gläschen, das vor zwei Tagen noch nicht dort gestanden hatte. Ich drehte den Deckel auf, und mir schlug ein starker, orientalisch anmutender Duft entgegen, der in meiner Nasenwurzel kitzelte. In dem Moment wusste ich zwei Dinge: Morgen würde ich mit meinem Roman beginnen. Und ich hatte wieder einen Vorwand, die Mohnblüte zu sehen.
     
    »Kardamom«, entschied sie nach kurzem Zögern, zog eine Schublade auf und legte mir ein paar braune, holzartige Samen in die Hand.
    »So sehen die aus?«
    Die Mohnblüte nickte, diesmal ohne rot zu werden.
    »Gehört zur Familie der Ingwergewächse. Allerdings   …«, sie lächelte, beinahe verschmitzt, »wird vom Kardamom die Frucht verwendet und nicht der Wurzelstock.«
    »Ah.«
    |59| »Wirkt antiseptisch, krampflösend, anregend. Findet man bei uns vor allem im Lebkuchengewürz.«
    Ihre Stimme war wie Musik, ich konzentrierte mich auf ihren Klang, als mir plötzlich bewusst wurde, dass ich irgendetwas entgegnen sollte. Auf die Schnelle fiel mir nichts Besseres ein als ein langezogenes »Jaaa?«
    Die Mohnblüte schienen meine tumben Einwürfe nicht zu irritieren. Im Gegenteil, sie war ganz

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