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Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ins Regal einzuordnen. Ruth kam hinter mir her und blieb neben mir stehen.
    »Mindestens hundertfünfzig.«
    »Die Liftingcremes müssen auf Augenhöhe platziert werden«, murmelte ich und tauschte die Cremepackungen aus.
    »Und woher kennst du den überhaupt?« Ruth klang beleidigt, nach gerechtfertigter Empörung. Wenn in dieser Apotheke jemand den Männern zuzwinkerte, dann war das schließlich sie. Fünfzehn Jahre jünger, Minirock unter dem Kittel, blond. Natürlich hatte es hin und wieder einen hartnäckigen Rentner gegeben, der es beim Schäkern auf mich abgesehen hatte, aber für die jüngeren und attraktiven Männer war bisher |52| eindeutig Ruth zuständig gewesen. Vielleicht lag das aber auch nicht ausschließlich an Alter und Haarfarbe; ich machte mir einfach nichts aus Flirten, wahrscheinlich konnte ich es noch nicht einmal buchstabieren. Und nun der Kranz, von einem Mann, der aussah – ja, wie? Ich überlegte. Irgendwie exotisch, vielleicht am ehesten wie ein Indianer.
    An diesem Abend nahm ich den Kranz mit in meine Wohnung, die sich im selben Gebäude wie die Apotheke befand. Das Haus war alt, hatte Charme, war aber in ausreichend gutem Zustand, so dass sich die Mieter für die nächsten Jahre keine Sorgen zu machen brauchten: Es war frei von bösen Überraschungen wie durchgefaultem Gebälk oder mit Schimmelblüten übersäten Wänden. Meine Wohnung lag im obersten Stock unterm Dach, sie war hell und hatte ein Oberlicht im Schlafzimmer. An Regentagen weckte mich das freundliche Ticken unzähliger Regenfinger, und an den Abenden hüllte mich das monotone Rauschen in meine eigene Welt, in der es nur mich gab, mein warmes Federbett und den Regen.
    An jenem Abend trug ich den Kranz in mein Schlafzimmer und platzierte ihn dort auf dem runden Tisch. Ich zündete eine der dicken grünen Kerzen an, entfachte ein Feuer im Kachelofen |53| und machte es mir mit einer Mahlzeit im Bett bequem. Ich las in dem Gewürzbuch und grübelte darüber nach, was ich tun konnte, um mich bei dem Gewürzmann, wie ich den seltsamen Mann mit dem indianischen Gesicht nannte, für das Geschenk zu revanchieren. Als ich nach Stunden das Licht löschte, lag ich noch lange wach und lauschte dem Knistern der Glut im Ofen, umweht von einem leisen Duft nach Nelken und Zimt.
     
    Am nächsten Tag entschuldigte ich mich bei Ruth und überließ ihr die Geschicke der Apotheke, nicht ohne den Kranz zuvor neben der Kasse platziert zu haben. Als ich den Laden verließ, meinte ich, ihren ungläubigen Blick im Rücken zu spüren.
    Die Regenwolken vom Vortag waren weggewischt und der Morgen war sonnig, aber kalt, und der Himmel wie aus blauem Glas. Splitt knirschte unter meinen Stiefeln und die Kälte prickelte auf meinem Gesicht. Ich schritt rasch aus, rascher, als ich sonst ging, und es dauerte keine Viertelstunde, bis ich in die staubige und bücherschwere Luft des Antiquariats eintauchte. Diesmal kaufte ich alles, was mit Gewürzen zu tun hatte, und ein Rezeptbuch für Weihnachtsgebäck. Auf dem Rückweg machte ich beim |54| Supermarkt Halt und kaufte alle Zutaten, die man für Zimtsterne benötigte. Noch bevor ich in meine Straße einbog, wehten die Takte eines Weihnachtslieds um die Ecke, und ein paar Sekunden lang erahnte ich etwas, das wie ein Zauber war, doch hätte ich nicht zu sagen gewusst, weshalb.
    Ich betrat das Haus durch den Hintereingang, Ruths neugierige Blicke vermeidend, und trug die braune Papiertüte unverzüglich in den vierten Stock. Die Zimtsterne sollten unbedingt fertig sein, bevor der Gewürzmann das nächste Mal in die Apotheke käme. Ich hatte noch nie Plätzchen gebacken und freute mich auf das Experiment. Ich holte Mehl, Zucker, Zimt, Eier aus der Tüte und ordnete alles nebeneinander auf der Arbeitsfläche an. Ich musste eine Weile suchen, bis ich die Küchenwaage ausfindig gemacht hatte, aber schließlich fand ich sie in einem der Oberschränke ganz hinten.
     
    Am Ende waren die Plätzchen klein, hässlich und verkrumpelt. Hätte das Rezeptbuch, in dem deutlich die Überschrift ›Leckere Zimtsterne‹ zu erkennen war, nicht aufgeschlagen vor mir gelegen, ich hätte nicht gewagt, zwischen diesen armseligen Gebilden und der Erinnerung an die säuberlichen Sternchen in der Keksdose meiner |55| Großmutter einen Zusammenhang herzustellen. Da mir meine Großmutter zwar nicht das Backen beigebracht (ich war an allem, was mit Küche zu tun hatte, mehr als nur desinteressiert), aber mein Bewusstsein dafür geschärft

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