Neva
Gerüchte sind nur vorgeschoben. Vor ihrer Beziehung mit Braydon hätten solche Widerstände das rebellische Feuer in ihr noch genährt.
»Sei nicht böse, Nev.« Sie stößt verlegen gegen mein ausgestrecktes Bein. »Er macht sich bloß Sorgen um mich. Das ist doch süß, oder? Er will nicht, dass mir etwas zustößt. ›Jetzt, wo wir uns gefunden haben.‹ So hat er es ausgedrückt. Ich meine, ist das nicht … na ja,
Wahnsinn?
«
Ich schlucke mein schlechtes Gewissen hinunter und auch die Eifersucht, die mir die Kehle zuschnüren will. Dann ziehe ich die Beine an den Körper und nicke. Er klaut mir meine beste Freundin und legt unseren Protest lahm.
»Es ist ja nicht vorbei, Nev. Wir halten uns nur ein Weilchen zurück.« Sie will, dass ich ihr meinen Segen gebe, dass ich ihr zustimme und sage, es sei okay, fürs Erste aufzugeben. Aber das kann ich nicht. »Weißt du, vorher hatte ich eben nichts zu verlieren«, fügt sie leise hinzu.
»Ich verstehe.« Nun kommt es
mir
so vor, als hätte ich nichts zu verlieren.
Eine Weile herrscht zwischen uns ein Schweigen, das neu für uns ist.
»Ich muss jetzt wieder, Nev. Meine Pflegeeltern gehen an die Decke, wenn sie bemerken, dass ich abgehauen bin«, sagt sie schließlich, und ich bin erleichtert. »Wir telefonieren später.«
»Ja«, murmele ich, als sie hinausgeht. Braydon hat meine Freundschaft zu Sanna vergiftet: Der Loyalität und der Zuneigung, die ich für sie empfinde, stehen nun meine Gefühle für ihren Freund gegenüber.
Ein zweimaliges Klopfen lässt mich zusammenfahren. »Neva? Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigt sich meine Mutter. Ich sehe auf die Uhr. Es ist fast Abendessenszeit. Ich habe keine Ahnung, wo der Nachmittag hingegangen ist.
»Ja, alles klar«, rufe ich.
»Kann ich reinkommen?«, fragt sie und drückt bereits die Tür auf. Ein Küchentuch hängt über ihrer Schulter wie das Spucktuch für ein Baby. Das Hemd ist noch immer falsch geknöpft und knautschiger als heute Morgen. Sie tritt ans Bett und geht neben mir in die Hocke. »Ich habe mit deinem Dad gesprochen. Alles ist gut. Alles kommt wieder in Ordnung.«
»Okay«, murmele ich. »Es tut mir leid.« Ich lege mein Kinn auf die angezogenen Knie.
»Du musst vorsichtiger sein«, flüstert sie. »Du verstehst nicht. Am Ende wärst du vielleicht …« Sie bricht ab, legt ihre Hand in meinen Nacken und stößt unsere Köpfe leicht aneinander. »Aber daran denken wir lieber nicht.«
Ich spüre, dass sie mehr sagen will. »Wo hätte ich am Ende landen können?« Noch nie haben wir das Thema Vermisste auch nur angesprochen, und diese Gelegenheit will ich mir nicht entgehen lassen.
»Sei einfach klug, Neva.«
Weder schimpft sie mit mir, noch fragt sie, was ich getan habe. Es kommt mir fast so vor, als wollte sie mich rebellieren sehen. Aber das kann nicht sein. Wir sind schließlich Adams. Unsere Familienbande lassen sich bis zu den Gründungsvätern zurückverfolgen. Mein Großvater ist viermal ins Parlament gewählt worden. Mein Vater sitzt im Rat. Ich habe einen Stammbaum, der Türen öffnet und offen hält. Aber das, was meine Mutter unausgesprochen lässt, spricht Bände.
Wenn ich sie ansehe, weiß ich, wie mein Leben in dreißig Jahren sein wird. Sie hatte mal eine Boutique, doch jetzt zieht sie Tomaten im Gewächshaus und leitet die Tauschbörse in unserem Viertel. Dad sagt, jeder muss seinen Beitrag leisten. Seine Rolle in der Regierung ist bedeutender geworden und hat sich immer weiter ausgebreitet. Währenddessen ist Moms Leben zusammengeschrumpft. Obwohl sie sich niemals beklagen würde, ist mir doch klar, dass sie es gerne anders gehabt hätte.
»Dein Vater kommt bald nach Hause. Und, Neva …?«
»Ja?«
Sie legt ihre Hand auf meine und flüstert: »Ich habe dein Tagebuch zurückgebracht.«
»Danke, Mom.« Wir verharren einfach so, bis wir hören, dass die Eingangstür aufgeht.
»Komm zum Essen, wenn dir danach ist.« Damit steht sie auf und beeilt sich, um Dad im Korridor zu begrüßen.
Tatsächlich steckt mein rosafarbenes Tagebuch wieder unter dem Kissen. Ich hoffe nur, dass ich Nicolines Namen nicht aufschreiben muss. Mich hat mein Nachname gerettet, aber Nicoline hat keine Verbindungen. Ihre Abstammung ist nicht so klar. Und sie hat ein Kenn-Zeichen. Sie kann nicht verschwunden sein, das darf einfach nicht sein. Ich schiebe mein Tagebuch in das Loch in der Matratze. Ich muss sie anrufen.
»Hallo?« Die Stimme ist leise und kratzig, fast nur ein
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