Neva
Flüstern.
»Hallo, Mrs.Brady?«, frage ich.
»Ja.« Sie klingt, als hätte ich sie geweckt. »Wer spricht da?«
Ich will antworten, doch dann ist das statische Knistern so laut, dass sie mich nicht hören würde. Ich warte einen Moment. »Ich heiße Neva. Ich bin eine Freundin von Nicoline.«
»Oh.«
»Kann ich mit ihr sprechen?«
»Nein.«
Das verblüfft mich. »Ähm … Wie bitte?« Da stimmt etwas nicht. Warum soll sie mir verbieten, mit ihr zu reden?
»Du hättest meine Tochter nicht in so etwas hineinziehen dürfen. Du …«
»Wovon reden Sie überhaupt?«, unterbreche ich sie. Sie darf nicht weitersprechen. Vielleicht hört jemand zu. »Geht es Nicoline gut?«
»Sie … sie ist …« Sie bricht ab, als würde sie nach Worten suchen. »Sie hat Hausarrest. Du wirst sie eine ganze Weile nicht sehen.« Ihre Stimme wird in der Leitung leiser und lauter. Ich muss mich anstrengen, um sie zu verstehen. »Lass sie in Frieden.«
»Aber Mrs. Brady. Ich will doch nur wissen, ob Nicoline …«
»Hör zu«, schneidet sie mir das Wort ab. »Ich weiß nicht, ob du mich nicht verstehen kannst oder einfach nicht willst.« Ihr Ärger ist trotz des Knackens deutlich zu hören. »Lass es gut sein. Wenn nicht für Nicoline, dann wenigstens um deinetwillen!«
Und dann ist die Leitung tot.
Ich muss mich beim Essen blicken lassen. Ich muss so tun, als sei alles in Ordnung. Wir sitzen auf unseren üblichen Plätzen: ich meiner Mutter gegenüber, mein Vater vor einem leeren Stuhl. Dreiköpfige Familien sollten nur runde Tische besitzen. Der leere Stuhl gibt mir immer das Gefühl, als fehlte jemand.
»Neva.« Dad spricht meinen Namen wie einen Vorwurf aus. Mom sieht auf ihren Teller und schneidet ein Stück Fleisch klein. Sie hat Dads Lieblingsessen gemacht. Für den Truthahn muss sie enorm gefeilscht haben. Normalerweise kommen pro Tag höchstens zwölf Tiere von der Farm.
»Ja.« Ich schiebe den Mais auf meinem Teller zusammen. Ich mag kein einziges Korn mehr essen. Den haben wir fast täglich auf dem Tisch.
»Du musst mit diesem Unfug aufhören.« So viele Wörter hat er normalerweise in mehreren Tagen nicht für mich übrig. »Und ich habe dir noch erlaubt, dich mit dem Mädchen mit dieser schauderhaften Narbe im Gesicht anzufreunden! Das ist alles ihrem schlechten Einfluss zu verdanken.«
Er hat es mir
erlaubt?
Sein Haar ist das Einzige, das sich ihm widersetzt. Das, was ihm geblieben ist, liegt wie ein Hufeisen um den kahlen Oberkopf. Er ist glattrasiert, vergisst dabei jedoch immer eine andere Stelle: entweder am Kinn oder weiter oben an der Wange. Aus seinen Brauen ragen ein paar Haare, die länger als die anderen sind und wie verrutschte Wimpern wirken. Und manchmal lugt ein weißes Haar aus seinem Nasenloch.
»Ich verstehe überhaupt nicht, warum ihr euch unbedingt verstümmeln müsst. Das ist barbarisch«, fährt er fort und starrt auf den leeren Stuhl. »Wir haben so hart dafür gearbeitet, echte Gleichheit zu schaffen. Und ihr mit eurem jämmerlichen Widerstand untergrabt die Mühe von Generationen! Du solltest dir wirklich Freundinnen aus anständigen Familien suchen.«
»Oh, George«, gurrt meine Mutter. »Das sind Kinder, und Kinder müssen so was tun. Lass sie doch. Es ist gar nicht so lange her, dass wir uns selbst die Gesichter bemalt haben. Weißt du noch?«
»Dad hat sich sein Gesicht bemalt?« Ich kann ihn mir nicht anders vorstellen, als er jetzt ist – mit seiner grantigen Miene und dem missbilligenden Blick.
»O ja. Weiß mit schwarzen Sternen um die Augen«, erzählt Mom und zeichnet einen Stern um ihr eigenes Auge.
»Ernsthaft?« Ich versuche, es mir vorzustellen.
»Wir waren jung und hatten keinen Respekt vor den Älteren.« Dad runzelt die Stirn, und ich betrachte die tiefen Falten um seinen Mund und die Augen, die wie eingemeißelt wirken.
»Wir werden irgendwann alle erwachsen.« Mom seufzt. Ihr Blick richtet sich auf eine Stelle hinter Dad.
»Eben. Neva ist jetzt erwachsen. Sie trägt Verantwortung – dieser Familie und Heimatland gegenüber.« Er steht auf und geht in den Flur. Als er zurückkehrt, hält er einen Umschlag in der Hand, den er neben meinem Teller ablegt.
»Was ist das?«, frage ich und schiebe mir mit der Gabel Kartoffelbrei in den Mund.
»Deine Arbeitsunterlagen. Ich habe dir eine Stelle besorgt.« Er setzt sich wieder und lächelt Mom an.
Das Püree wird in meinem Mund zu einem riesigen Klumpen. Ich kann das Essen nicht ausspucken, aber auch
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