Neva
abkauft. Mit Beinen wie Pudding erhebe ich mich und bewege mich langsam zur Tür.
»Ich behalte dich im Auge«, flüstert er mir zu, als er an mir vorbeiläuft. Dann führt er mich durch das Labyrinth aus unterirdischen Fluren zur Treppe zurück, und nach drei Etagen befinden wir uns endlich über der Erde. Fenster säumen die Eingangshalle. Bäume und den Himmel wiederzusehen tröstet mich. Ich bin fast draußen. Als wir um eine Ecke biegen, kommt uns ein Officer mit einem Mädchen entgegen. Der Stern auf ihrer Wange leuchtet hellrot. Nicoline muss ihn nachgezeichnet haben. Als wir aneinander vorbeigehen, versucht sie zu lächeln, doch ihre Unterlippe zittert. Ich erwidere das Lächeln – ein zuversichtliches, wie ich hoffe –, um ihr zu vermitteln, dass ihr Geheimnis bei mir in Sicherheit ist.
Meins bei ihr auch?
Ich kann nicht aufhören weiterzulaufen; ich mag nicht einmal das Tempo wechseln oder zögern, um vielleicht abzubiegen. Ich muss mich voranbewegen, immer weiter voran. Als ich das Regierungsgebäude verlasse, spüre ich noch immer wachsame Blicke in meinem Rücken.
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7 . Kapitel
S anna«, stammele ich ins Telefon. »Sie wissen es.« Etwas Besseres fällt mir nicht ein, als Sanna den Hörer abnimmt und sich meldet. Die Telefonzelle stinkt nach Schimmel und Urin.
»Nev, beruhig dich. Wo bist du?« In der Leitung knistert es.
Ich muss mich einen Moment lang besinnen, um mich zu erinnern. Die Betontreppe. Die massive steinerne Konstruktion vor mir, die den ganzen Block dominiert. »Ich bin vor dem Regierungsgebäude, in dem mein Vater arbeitet.« Auf den Stufen sitzen Leute und trinken Kaffee aus riesigen Bechern. Zwei Läufer in Tanktops und Shorts rennen an mir vorbei. »Sanna, sie haben mich gefragt, ob ich …«
»Nev …« Die Leitung ist gestört, und ich kann Sanna kaum verstehen.
»Was?« Ich muss es ihr sagen. Ich muss es loswerden. »Sanna …«
Sie schneidet mir barsch das Wort ab. »Nev, halt die Klappe. Wir müssen reden.« Sie macht eine Pause. »Und zwar unter vier Augen.« Das Letzte betont sie.
Jetzt endlich verstehe ich. Sie glaubt, dass jemand uns abhören könnte. Sie hat recht. Natürlich hat sie recht. Wie konnte ich nur so dumm sein? Im Augenblick kann ich nicht klar denken. Ich entdecke in der Nähe zwei Frauen in grauen Kostümen. Die eine lächelt, die andere nickt mir zu. Vielleicht haben sie etwas mitgehört. Hören sie jetzt gerade zu? »Sanna …« Ich muss so viel sagen, aber ich fühle mich wie geknebelt. Jedes Wort erscheint mir plötzlich wie ein belastender Beweis. Als hätte jemand einen Suchscheinwerfer auf mich ausgerichtet.
»Braydon ist auf dem Weg.«
Der Name löst eine andere Panikwelle in mir aus. »Warte … nein«, beginne ich, aber ich muss ja wirklich hier weg.
»Er ist gleich bei dir. Er kommt mit dem Motorrad und bringt dich nach Hause. Wir treffen uns dort.«
»Braydon fährt Motorrad?«
»Ja. Deswegen trägt er auch diese Killerstiefel«, gibt sie zurück. »Es gibt so einiges, das du nicht über ihn weißt.«
Daran zweifle ich nicht.
Ich höre das Dröhnen seines Motorrads, bevor ich ihn sehe. Er trägt ausgeblichene Jeans mit Löchern an den Knien und eine abgewetzte schwarze Lederjacke mit tiefen Schrammen an dem einen Ellenbogen. Er hält direkt vor mir. Sein welliges Haar kräuselt sich über den Schultern. Er wirkt sehr selbstbewusst auf seinem Bike. Seine Muskeln treten hervor, als er die Maschine behutsam auf den Ständer stellt. Mein Blick tastet die Konturen seines Hinterns ab und gleitet an seinen starken Beinen hinab. Ich gehe die Treppe hinunter, um ihm entgegenzukommen.
»Es tut mir leid, Neva«, sagt er mit ruhiger, sanfter Stimme. Nie hat sich jemand aufrichtiger angehört.
Jetzt steht er vor mir. Er streckt den Arm aus und streicht mir eine Locke hinters Ohr. Dann wiederholt er die Geste, als wüsste er, dass meine Großmutter das immer getan hat. Was macht er denn da?
Fass mich nicht an. Bitte.
Ich will zurückweichen, aber ich kann nicht, denn seine braunen Augen halten mich fest. Es kommt mir vor, als würde er verstehen, dass ich mich niemals mehr sicher fühlen kann.
Es sei denn … Er schlingt die Arme um mich.
»Schon gut, Neva.« Er legt seine Wange an meine. Ich schmiege mich an ihn. Keine Ahnung, wie lange wir so dastehen, aber es reicht mir längst nicht. »Wir müssen gehen«, sagt er schließlich.
»Okay.« Ich werfe einen letzten Blick auf die massige Konstruktion aus Stein und Beton.
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