Neva
es wohl ist, wenn man nicht mehr hinterfragt, was man denkt oder was man tut. Wenn man Entscheidungen trifft, ohne darüber nachzugrübeln, ob die andere Wahl nicht die bessere gewesen wäre. Vielleicht kann Mom mir ja beibringen, wie man sich in sein Schicksal fügt, es zu akzeptieren lernt und einfach weiterlebt.
Stumm blicken wir geradeaus durch die Windschutzscheibe. Das Schweigen zwischen uns fühlt sich seltsam an, kommt mir fast laut vor. Die Stadt wirkt wie eine Filmkulisse, die noch mit Leben gefüllt werden muss. Die Menschen scheinen hinter den Ecken zu lauern. Dad fährt an jede Kreuzung zögernd heran, obwohl wir praktisch keinem einzigen anderen Wagen begegnen. Dad hat gesagt, das, sei das letzte Auto, das er verwertet. Ich wollte von ihm fahren lernen, denn mir gefiel der Gedanke, diese Maschine zu beherrschen, anstatt immer nur mitzufahren. Aber er hat mir geantwortet, dass es sinnlos wäre, da die Zukunft im Massentransport liege – Propaganda der Regierung, mit der man uns weismachen will, dass es einen Fortschritt gibt.
Wir fahren ins Zentrum der Altstadt. Bis auf die gigantischen Regierungsbauten ist fast jedes Gebäude eingerüstet. Dad muss ein paarmal auf die Hupe drücken, um die Straße frei zu machen, denn die Leute unterscheiden nicht zwischen Gehweg und Straße.
»Wohin muss ich zuerst?«, frage ich mit einem resignierten Seufzen. Dies hier geschieht wirklich, und es hat wenig Zweck, dass ich mich weiterhin dagegen auflehne. »In dem Brief bei den Unterlagen stand etwas von einer Einweisung oder so was.«
Das spärliche Haar auf seinem Kopf und seine ausgefransten Brauen zittern im Wind, der durch das kaputte Fenster dringt.
»Du gehst gleich zur Verwaltung. Da bekommst du ein Namensschild. Dann bringt man dich in mein Büro, und Effie wird dich in ein paar neue Projekte einarbeiten.«
Effie ist halb Pitbull, halb Klosterschullehrerin. Ich weiß noch genau, wie ihre nasale Stimme ertönte, wenn ich früher meinen Vater auf der Arbeit angerufen habe: »Abteilung für Altgeschichte, Büro von Minister George W. Adams, Effie am Apparat, was kann ich für Sie tun?« Die Ansage klang immer absolut gleich. Und wenn ich als kleines Kind zu Besuch kam – bevor Großmama verschwunden und alles anders geworden war –, stellte Effie eine Flasche mit antibakteriellem Handreinigungsgel an die Tischkante. Sie schärfte mir ein, es zu benutzen, wann immer ich an ihrem Schreibtisch vorbeikam, nachdem ich etwas gegessen oder getrunken oder geniest, gehustet oder geschnieft hatte.
Dad trug mich früher immer huckepack ins Büro und stellte mich jedem als »seine kleine Neva« vor. Ich kuschelte mich dann auf die Ledercouch mit den eingesteppten Rauten, die ich so gerne mit den Fingern nachzeichnete, und Dad erzählte mir tolle Geschichten von Helden, Erfindern und Genies. Damit ich am nächsten Tag wieder mit ihm zur Arbeit gehen wollte, ließ er das Ende immer offen. »Dr. Ben polierte jede einzelne Bauplatte von Hand. Würde er es noch rechtzeitig schaffen? Er hatte eine Möglichkeit gefunden, durchsichtige Platten zu entwerfen, die als Schutzmauer und gleichzeitig als Filter dienen konnten. Er musste ein Puzzle erschaffen, das den Himmel bedeckte. Aber der Himmel war gigantisch. Dr. Ben arbeitete Tag und Nacht. Er wusste, dass Heimatlands Zukunft auf seinen Schultern ruhte.«
»Und hat er es geschafft, Dad?«, fragte ich.
»Morgen, Neva.«
»Aber wie kann er denn im Himmel ein Puzzle bauen? Kann er alle retten?«
»Geduld, meine Kleine.« Er tätschelte mir den Kopf und ließ mich auf das Happy End warten.
Später erfuhr ich, dass er mich hereingelegt hatte. Die Geschichten hatte er sich gar nicht selbst ausgedacht. Überhaupt waren es nicht einmal richtige Märchen – es waren Geschichtslektionen. Aber er hatte mir nicht einfach nur Daten und Fakten genannt, sondern die Personen wieder zum Leben erweckt. Über diese Geschichten schlief ich ein, und wann immer er an mir vorbeiging, strich er mir übers Haar. Manchmal tat ich nur so, als würde ich schlafen, und genoss die Wärme seiner Hand oder lauschte, wenn er vor sich hin murmelte, wie sehr er mich liebte.
»Neva.« Er räuspert sich. »Du stehst jetzt im Dienst der Regierung. Du arbeitest in meiner Abteilung.« Das Letzte sagt er, als sei es noch wichtiger. »Du musst dich so verhalten, dass du keinerlei Angriffsfläche bietest.«
Es fühlt sich an, als wäre mein Blut geronnen und der Pfropfen würde schneller und schneller
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