Neva
merke deutlich, dass er es selbst nicht fassen kann.
»Effie? Bist du sicher?«
Er nickt und starrt ins Leere. »Ich habe ihr vertraut.«
Mein Schuldgefühl schwindet. Für diese Sache bin ich nicht verantwortlich. »Und was passiert jetzt mit ihr?« Effie – eine Rebellin? Ich kann es einfach nicht glauben.
Dad räuspert sich, und der leere Blick ist mit einem Mal weg. Er wirkt angespannt, hat sich aber wieder unter Kontrolle. »Sie wird so bald wie möglich ersetzt werden. Bis dahin bist du für all die Aufgaben zuständig, die nicht in die Kategorie ›vertraulich‹ fallen. Wir müssen vergessen, was da geschehen ist, und weiterarbeiten.«
Er meint, wir müssen Effie vergessen. Wahrscheinlich ist er ziemlich gut darin, Leute aus seinem Leben zu löschen. Schließlich hat er genug Übung.
Ich setze mich an Effies Tisch. Leute kommen, nehmen den Computer weg und räumen den Platz leer. Effie hat nichts Persönliches auf ihrem Schreibtisch gehabt, nicht einmal eine Kritzelei oder einen angefangenen Einkaufszettel. Es ist, als sei sie nie hier gewesen. Dann wird ein neuer Computer für mich geliefert und angeschlossen. Als ich ihn hochfahre, sehe ich nur ein einziges Symbol, das ich anklicken kann: das für das Geschichtsbuch. Mehr nicht. Kein RegNet, kein gar nichts. Meine Suche ist vorbei. Ich könnte schreien.
Komisch, aber Effie fehlt mir. Ihre Tüchtigkeit und der unerschütterliche Glaube an ihre Arbeit und Heimatland waren das Rückgrat des Büros – und alles war nur gespielt! Dad wandert ziellos zwischen seinem Büro und Effies Tisch – meinem neuen Platz – hin und her. Er kommt aus seinem Zimmer oder schaut auf von den Papieren, die er liest, wenn ich eintrete, und jedes Mal habe ich den Eindruck, als müsse er sich erst wieder klarmachen, dass Effie nicht mehr da ist. Sein Gesichtsausdruck wird zunächst sanft, dann legt er die Stirn in Falten.
Es ist einsam ohne ihre entnervten Seufzer und ihre eisige Missbilligung. Ich erhalte Informationsanfragen aus der gesamten Regierung. Das Ministerium für Austausch will eine Aufstellung aller Storys, die mit Recycling-Programmen zu tun haben. Jemand aus dem Gesundheitsministerium ruft an, um Dad an einen Arzttermin zu erinnern. Ich sortiere die Anfragen und sammle meinen Mut, um Dad zu fragen, was ich damit machen soll.
Ich klopfe also an seine Tür und hoffe, dass er nicht antwortet, obwohl ich genau weiß, dass er da ist. »Herein!«, brüllt er.
Mit einem Fuß überquere ich die Schwelle, bleibe aber mit dem größten Teil des Körpers draußen. Erneut sitzt er über seinen Tisch gebeugt, so dass ich mit seiner kahlen Stelle spreche. Papiere und Akten türmen sich um ihn herum zu windschiefen Stapeln auf, die umzustürzen drohen. Mit einem Stift in der einen Hand und einem Textmarker in der anderen arbeitet er an einem Dokument, und seine drahtigen Haarbüschel zittern, während er kritzelt, streicht und hervorhebt. »Ähm, Dad, ich wollte dich fragen, ob … na ja …«
»Was?«, fragt er gereizt und schaut auf. Er ist heute sogar noch schlechter rasiert als üblich. Am Kinn sind Stoppeln zurückgeblieben, und seine Koteletten sind ungleichmäßig lang.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Das hätte ich besser nicht gesagt. Seine Kiefer pressen sich zusammen, seine Augen verengen sich.
»Ich meine, ich … ich habe all die Korrekturen eingetragen, die du für das Geschichtsbuch vorgesehen hattest. Aber Effie hat mir nicht gezeigt, was sie sonst noch tut; ich durfte ja nichts tun. Jetzt bekomme ich von überall her Anfragen und weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.«
Seine Miene entspannt sich etwas. »Gib sie mir. Ich kümmere mich darum.«
Ich reiche ihm eine ganze Reihe von Mappen. »Ich habe sie nach Wichtigkeit und Fristablauf sortiert. Die Anfragen der Ratsmitglieder findest du in der obersten Akte.«
Fast könnte man meinen, dass er zufrieden mit mir ist.
»Das Büro des Gesundheitsministeriums hat sich gemeldet. Ich soll dich an einen Termin mit irgendeinem Arzt erinnern.«
Seine Miene verfinstert sich.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, sicher, Neva. Es ist nur …« Er zögert. »Reine Routine.«
»Dad, ich möchte etwas tun.« Ich trete näher an den Tisch heran. »Das kann ich doch für dich ordnen.« Ich deute auf das Chaos an Zetteln und Papieren auf seinem Tisch. Ich nehme einen dicken Ordner in die Hand, den mein Vater mit seiner krakeligen engen Schrift
Frauen-Motivationszentrum
betitelt hat. FMZ
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