Neva
Gegenwart.
Nun dreht Sanna sich langsam mit dem Karussell, zieht an einer Zigarette und bläst Rauchkringel in die Luft. Nur daran kann man erkennen, wie angespannt sie innerlich ist: Sie ist Stressraucherin. Sie hat einen Fuß unter sich gezogen und stößt sich mit dem anderen träge ab.
»Also«, sage ich, als sie an mir vorbeikommt. Meine Gefühle für Braydon haben alles verändert. Auch wenn Sanna nicht weiß, worum es geht, spürt sie es.
»Also?«, wiederholt sie, als sie erneut an mir vorbeifährt. Sie schnippt die Zigarette zu Boden.
»Wo sind die anderen?«, frage ich und sehe auf die Uhr.
Sie bohrt die Fersen in den Boden und bremst das Karussell. Nun kehrt sie mir den Rücken zu. Ich setze mich auf die gegenüberliegende Seite und wende ihr den Rücken zu. Als ich klein war, sind mir das Holz und das Metall stabiler vorgekommen. Der Sitz scheint unter meinem Gewicht nachzugeben.
»Nev.« Ich höre das Klicken ihres Feuerzeugs, wie sie inhaliert und den Rauch ausstößt. »Es ist vorbei.«
Mein Herz setzt für einen Schlag aus. Hat sie mit Braydon Schluss gemacht?
»Unsere Rebellion«, flüstert sie.
»Was?«
»Alle wissen von dem Verhör. Und dass du jetzt für die Regierung arbeitest. Und Nicoline … Weißt du, niemand hat sie wiedergesehen, seit du mit ihr …«
Ich stoße mich seitlich mit dem Fuß ab, bis das eine Bein durchgestreckt ist, dann winkle ich es wieder ab. Ich höre, wie Sanna mit ihren Füßen antwortet, und Kies und Sand knirschen unter unseren Sohlen. Ich fahre durch ihre Rauchwolke. »Ich weiß. Das war es ja, was ich dir sagen wollte. Sie ist weg. Sie haben sie irgendwo hingebracht. Sie ist verschwunden. Wie dein Vater und meine Großmutter und … Wenn die anderen hier sind, erzähle ich es euch. Wir müssen uns etwas ausdenken. Wir könnten …« Meine Gedanken überschlagen sich. Ich kann kaum schnell genug reden, um alles auszuspucken. Wir drehen uns schneller.
»Nev.« Ein weiteres Mal stoppt sie das Karussell mit der Ferse. »Du hörst mir nicht zu. Alle glauben, dass … Na ja, Nicoline ist weg, aber du bist hier …«
Ich kann nicht fassen, was sie da andeutet. Sie halten mich für den Feind! »Mit Nicolines Verschwinden habe ich nichts zu tun!« Ich trete nach dem Staub. »Nicht mehr als du.«
»Das weiß ich, aber die anderen haben Angst«, sagt sie leise, traurig. Ich nehme wahr, wie sie die Zigarette ausdrückt. »Ich auch.«
»Ich habe auch Angst, aber wir müssen doch etwas tun.« Obwohl das Karussell längst stillsteht, ist mir schwindelig. »Hast du ihnen denn nicht klargemacht, wie wichtig es ist, dass wir uns wehren? Jeder von uns kann doch der Nächste sein. Hast du schon mal von einer Einrichtung gehört, die sich ›Frauen-Motivationszentrum‹ nennt? Was kann das sein? Mein Vater hat ein Geheimzimmer, das habe ich dir noch gar nicht erzählt. Da muss irgendetwas drin sein …« Ich plappere immer weiter und weiter und weiter, weil die Geheimnisse mich allmählich auffressen. »Vielleicht sollten wir versuchen, Nicoline zu finden. Ich weiß nur nicht, wie.« Ich lasse den Kopf in meine Hände sinken. »Und nicht nur Nicoline. Effie ist auch verschwunden. Sie hat angeblich versucht, die Regierungsarbeit zu sabotieren. Ausgerechnet Effie! Vielleicht weiß sie was. Wenn Effie – die hyperkorrekte Effie – tatsächlich gegen die Regierung arbeitet, können wir es erst recht …« Ich presse mir die Handballen gegen die Augen. Das Schwindelgefühl muss irgendwie aufhören. »Ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie jeder verschwindet, der mir etwas bedeutet, oder? Denn genauso fühlt es sich an.«
Sanna steht auf, und meine Seite des Karussells senkt sich. Jemand zieht daran, um es wieder in Bewegung zu setzen. Ich hebe den Fuß an, lasse aber die Augen zu. Langsam fahre ich auf Sanna zu.
»Nev«, sagt sie sanft. Als ich die Augen aufmache, steht Sanna zwischen Braydon und Ethan. Ich mache die Augen wieder zu. Das darf einfach nicht wahr sein.
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13 . Kapitel
S ie wissen es. Alle wissen es. Das ist alles, was ich denken kann, als die drei vor mir stehen. Mein Freund, der mein Ehemann sein will. Meine beste Freundin, die endlich die Liebe gefunden hat. Und die Liebe ihres Lebens, Braydon, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Alle drei sehen auf mich herab. Ich schaue zu Braydon. Er trägt ein gebügeltes weißes Hemd und enge schwarze Jeans und hat sich sein langes Haar aus dem Gesicht gestrichen. Ich senke den Blick und betrachte
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