Neva
her.«
»Komm erst mal rein«, sagt er und legt einen starken Arm um meine Schultern. Er nimmt meine Tasche.
Ich bin so erschöpft wie noch nie zuvor in meinem Leben. Mein Körper fühlt sich so schwer an, als wäre er aus Blei. Dagegen scheint mein Kopf ganz leicht, als würde er über allem schweben. »Sanna. Wir müssen sie retten.«
»Das werden wir auch«, erwidert er so ruhig und zuversichtlich, dass ich ihm glaube. Wir sind nicht mehr dieselben Menschen, die wir noch vor wenigen Tagen gewesen sind, aber die starke Anziehung zwischen uns existiert noch immer – quälend und wunderschön zugleich. Es kommt mir nicht richtig vor, hier bei ihm zu sein, während Sanna vermutlich irgendwo eingesperrt ist. Andererseits habe ich das Gefühl, genau hier hinzugehören. Eine Spannung baut sich zwischen uns auf.
Er führt mich die Treppe hinauf. Als wir das Schlafzimmer erreichen, bemerke ich, dass er barfuß ist. Aus irgendeinem Grund steigt bei diesem Anblick ein Kichern in mir auf.
»Ich dachte, du schläfst in deinen roten Stiefeln.«
Er lacht, was die Stimmung auflockert, und ich stimme erleichtert ein, und plötzlich kann ich nicht mehr aufhören: Ich lache, bis mir der Bauch weh tut. Kichernd und glucksend fallen wir auf sein Bett, und sein Arm liegt noch immer um meine Schultern. Schließlich ebbt unser Lachen ab.
»Es tut mir so leid, was passiert ist, aber ich bin wirklich froh, dass du hier bist«, meint er.
»Danke, dass ich bleiben darf. Morgen bin ich wieder weg.«
»Was?«
»Ich muss Sanna finden.« Gerne würde ich ihm von dem Brief meiner Großmutter erzählen, doch ich schätze, ein Teil von mir traut ihm noch immer nicht hundertprozentig. Außerdem bin ich mir ohnehin nicht sicher, ob ich gehen kann. Das kann ich erst entscheiden, wenn Sanna in Sicherheit ist.
»Wie sollen wir herausfinden, wo sie ist?«
»Ich glaube, ich kenne jemanden, der uns helfen kann.« Ich werde ihm auch nicht von Senga erzählen. Vorerst behalte ich meine Geheimnisse lieber für mich.
Und schließlich bringe ich den Mut auf, um zu fragen: »Was ist gestern zwischen dir und Sanna geschehen, nachdem sie uns erwischt hat?« Komisch, dass ich nicht sagen kann »nachdem sie uns beim Küssen erwischt hat«. Die Erinnerung an den letzten Abend tut weh. Es kommt mir vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen.
Als er von mir abrückt, sehe ich, dass ich silbrige Flecken auf seinem Hemd hinterlassen habe. »Sie hat geweint und mich angefleht, nicht zu gehen. In dieser Stimmung konnte ich sie unmöglich allein lassen.«
Obwohl ich ihm gestern gesagt habe, dass er zu ihr gehen soll, spüre ich den Stachel der Eifersucht bei dem Gedanken, dass die beiden allein gewesen sind. Ich hasse mich dafür. »Ich kann nicht fassen, dass ihre Pflegeeltern dir erlaubt haben zu bleiben.«
»Entweder wussten sie es nicht, oder es hat sie nicht interessiert.«
»Ob ihr Bruder wohl weiß, dass sie verhaftet worden ist?«
»Sanna hat heute Morgen von einer Kontaktperson aus dem Untergrund erfahren, dass man ihn auf eine Gemeindefarm geschickt hat.« Er wirft mir einen Seitenblick zu. »Für ein Jahr oder länger.«
Ich setze mich auf. »Also wird es keinen interessieren, ob sie weg ist oder nicht. Wir müssen sie finden.« Außer mir hat sie niemanden mehr.
Die Art, wie er die Augen zusammenkneift und seine Kiefer aufeinanderpresst, verrät mir, dass er angestrengt nachdenkt.
»Braydon.« Ich pikse ihn in die Seite. Er sieht mich an, als hätte er vorübergehend vergessen, dass ich da bin.
»Neva, Sanna war gestern Abend so sauer auf dich.« Er blickt hinaus in die Dunkelheit. »Selbst wenn wir sie finden, bin ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt mit dir spricht.«
»Sie muss nicht mit mir reden. Sie muss mich auch nicht mögen.« Langsam gehe ich zum Fenster, um etwas Abstand zu ihm zu gewinnen. »Trotz allem, was vorgefallen ist, würde sie ihr Leben aufs Spiel setzen, um meins zu retten. Das weiß ich.«
Er tritt hinter mich. »Lass uns ein bisschen schlafen«, flüstert er. »Wir reden morgen weiter.«
Ein Gefühl wie ein elektrischer Schlag jagt durch meinen Körper.
»Ich schlafe im anderen Zimmer«, fügt er hinzu und wendet sich zum Gehen.
Doch ich kann jetzt nicht ertragen, allein zu sein, und greife nach seiner Hand. Keiner von uns spricht auch nur ein einziges Wort. Ich schlüpfe in sein Bett, und er kommt mir nach. Sanft rollt er mich auf die Seite und schmiegt sich an meinen Rücken. Unsere Körper passen
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