Neva
ich herunterschlucken. Ich stecke das Papier in den Mund und zermalme es. Die Schnipsel bleiben jedoch zwischen meinen Zähnen hängen. Ich halte mein Gesicht unter den Wasserhahn und trinke in großen Schlucken, um die Reste verschwinden zu lassen. Nur noch wenige Spülgänge, und alle Beweise sind vernichtet. Anschließend setze ich mich auf den Klodeckel. Ich spüre einen Papierklumpen langsam abwärts in meinen Magen wandern, wo die Säure ihn zu einem Brei zersetzen wird.
Ein leises zweimaliges Klopfen an der Tür lässt mich aufschrecken. »Neva, ist alles in Ordnung da drin?«, erkundigt sich meine Mom.
»Ja, mir geht’s gut«, rufe ich. Aber in meinem Magen rumort es.
»Neva, wir müssen reden.«
Rasch suche ich das Bad nach losen Papierfetzen ab, die ich übersehen haben könnte, und blicke in den Spiegel, um mich zu vergewissern, dass mir keine Buchstaben zwischen den Zähnen kleben. Wie sollte ich das sonst Mom erklären?
Ich schließe die Tür auf. Ihre Wangen sind nass vor Tränen. »Du musst gehen.« Sie packt mich am Arm und zerrt mich förmlich in mein Zimmer.
»Mom, du tust mir weh.« Ich winde mich aus ihrem Griff.
Sie hat eine Tasche mitgebracht und packt nun Unterwäsche und ein Paar Jeans hinein. »Du brauchst einen Mantel.« Hastig durchwühlt sie meinen Schrank.
»Mom«, sage ich, aber sie hört mich nicht. Sie ist vollauf damit beschäftigt, Hemden und T-Shirts von den Bügeln zu rupfen und in die Tasche zu stopfen. »Mom!«, brülle ich und nehme ihr die Tasche aus den Händen. »Was machst du denn da?«
»Du musst weg. Sie haben Sanna mitgenommen und wollen nun alle verhaften, die auch nur im Verdacht stehen, an der Demonstration teilgenommen zu haben.«
»Was?«
»Du musst von hier verschwinden.« Ihr Blick ist wild. »Fällt dir irgendein Ort ein, an dem du dich verstecken kannst?«
Es gibt nur eine Person, die mir helfen würde. Braydon. Ich nicke.
»Gut. Okay.« Sie drückt mir einen kleinen Zettel in die Hand und schließt ihre Finger um meine. »Das ist der Kontakt zu einer Person namens Senga. Such sie morgen auf. Sie wird dir helfen, aus der Stadt zu fliehen.«
»Woher kennst du Senga?«, frage ich, öffne meine Hand und lese die Adresse auf dem Papier.
»Frag nicht, tu es einfach. Pack ein paar Sachen ein, und ich bringe dich, wohin du willst. Ich sorge schon dafür, dass uns niemand folgt.« Ihre Stimme klingt nun ruhiger, fast kühl. »Uns bleibt nicht viel Zeit. Wir müssen gehen, bevor dein Vater nach Hause kommt. Er darf nicht wissen, dass ich etwas damit zu tun habe. Er darf nicht wissen, wohin du gehst.«
Ich beginne, Mom in einem völlig neuen Licht zu betrachten. Es ist, als hätte sie ihre Maske abgesetzt – oder vielleicht begreife ich auch jetzt erst. Ich lasse die Tasche fallen. »Komm mit mir.«
»Das geht nicht. Wir bekommen ein Baby. Wenn ich verschwinden würde, würden sie mich verfolgen. Aber du, du kannst untertauchen. Geh nach Norden und bleib zumindest für ein Weilchen dort.« Sie hebt mein Kinn an. »Wir müssen jetzt stark sein.«
Wenn sie das kann, dann schaffe ich es auch. Aber ich werde nicht weglaufen. Jedenfalls nicht so, wie meine Mutter sich das vorstellt. Ich muss Sanna finden und dafür sorgen, dass sie in Sicherheit ist.
Als ich schließlich in den Wagen steige, steckt mein ganzes Leben in einer einzigen Reisetasche. Ansonsten habe ich noch die Kleider, die ich am Leib trage, und die abgewetzten Schuhe an den Füßen. Ich reibe den Schneeflockenanhänger zwischen meinen Fingern. Als Mom vor Braydons Haus hält, umarmen wir uns, als würden wir uns niemals wiedersehen – und vielleicht werden wir das auch nicht.
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24 . Kapitel
D er spröde cremefarbene Lack blättert von der Tür, als ich mit der Faust dagegenhämmere. Niemand kommt. Vielleicht ist Braydon ebenfalls verschwunden. Ich klopfe lauter. Farb- und Holzsplitter bohren sich in meine Haut. Langsam öffnet sich die Tür.
»Neva? Was machst du denn hier?«, fragt Braydon. Er trägt eine ausgeblichene blau karierte Pyjamahose.
»Sie haben Sanna.«
»Was? Wann ist das passiert?« Besorgt zieht er die Brauen zusammen.
»Es gab heute eine Demonstration …«
Er lässt mich nicht ausreden. »Sanna ist da gar nicht hingegangen. Sie hat mir erzählt, dass sie unbedingt …«
»Sie hat’s dir nicht gesagt, richtig?«, unterbreche ich ihn. »Sie wusste, dass du dagegen sein würdest, aber die Polizei … Sie ist … Und jetzt sind sie wahrscheinlich hinter mir
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