Neva
ich bitte mit Sanna sprechen?«, frage ich in meinem höflichsten Tonfall.
Es knistert in der Leitung.
»Mr. Jones? Sind Sie noch da?«, frage ich nach einer Ewigkeit.
»Ja, ich bin noch da«, antwortet er deutlich. Er kennt mich. Ich habe schon hundertmal mit ihm gesprochen. Er war immer der Meinung, dass ich einen guten Einfluss auf Sanna hätte. Es gefiel ihm, dass sie mit der Tochter des Ministers für Altgeschichte befreundet war.
»Kann ich Sanna sprechen?«, wiederhole ich.
»Tut mir leid. Hier ist niemand, der so heißt.« Die Verbindung wird unterbrochen.
Nicht Sanna! Bitte, lieber Gott, nicht Sanna!
Ich krümme mich, um dem brennenden Schmerz in meinem Magen entgegenzuwirken. Dabei bohren sich die Ecken des Briefumschlags in meiner Jeans in meine Schneeflockentätowierung. Den hätte ich fast vergessen.
Auf dem Weg in mein Zimmer ziehe ich den zerknautschten Umschlag aus meinen Jeans. Ich drehe ihn in meinen Händen, wieder und wieder. Welche Rolle spielt er jetzt noch? Wenn Sanna verschwunden ist, kann ich ohnehin nicht einfach so gehen.
Ich setze mich aufs Bett und schlitze den Umschlag vorsichtig auf. Nur ein Blatt Papier befindet sich darin; ich reibe es zwischen meinen Fingern. Es ist cremefarben, fast bräunlich, und ganz grob; hier und da sind Stückchen und Knubbel zu sehen. Ich hatte ganz vergessen, wie sich Großmutters selbstgemachtes Papier anfühlt. Nun falte ich das Blatt auseinander.
Meine liebste Schneeflocke,
nichts ist mir je schwerer gefallen, als Dich zu verlassen. Aber wenn Du das liest, ist mein innigster Wunsch erfüllt worden, und wir werden uns bald wiedersehen.
Diese Nachricht muss kurz sein. Ich kann nicht mehr riskieren. Du wirst eine Chance zur Flucht bekommen. Niemand darf wissen, was Du vorhast. Lass alles zurück. Wenn es Dir möglich ist, das zu tun, warte ich auf der anderen Seite auf Dich.
Ich verlange viel, ich weiß. Ich kann auch nichts versprechen. Aber ich glaube, dass uns ein besseres Leben erwartet. Ich liebe Dich, Schneeflocke. Ich hoffe, wir sehen uns bald.
War das wohl schon immer ihr Plan – von dem Augenblick an, als ich geboren wurde? Meine Eltern haben es ihr überlassen, einen Namen für mich, ihre einzige Enkelin, auszusuchen. Sie war es, die mich Neva nannte. Einmal erzählte sie mir, sie habe mir einen verheißungsvollen Namen geben wollen. »Die Regierung kann zwar den Schneefall steuern. Trotzdem kann sie keine zwei identischen Schneeflocken produzieren«, erklärte sie damals.
Lange starre ich den Brief einfach nur an. Vielleicht habe ich meine Großmutter gefunden und meine beste Freundin verloren. Ich krame mein Tagebuch hervor und blättere zu den Seiten, auf denen ich die Erinnerungen an Großmama festgehalten habe. Die Postkarte, die sie geschickt hat, steckt als Lesezeichen darin. Ich habe mir immer gewünscht, sie wiederzufinden, aber niemals hätte ich damit gerechnet, dass ich zwischen ihr und allem anderen würde wählen müssen.
Ich schlage die letzte Seite auf, notiere das Datum und schreibe
Thomas.
Ich kenne nicht einmal seinen Nachnamen, aber er ist weg. Ein weiteres Mal lese ich die Namen der Menschen, die ich verloren habe. Mein Stift schwebt über der nächsten freien Zeile. Dort sehe ich Sannas Namen schon vor mir, aber das kann ich nicht zulassen. Ich habe vier Tage, um zu entscheiden, ob ich Großmamas Einladung annehmen soll. Das heißt, ich habe vier Tage Zeit, um Sanna zu retten.
Erneut lese ich den Brief durch. Nun, da alles andere meiner Kontrolle zu entgleiten droht, möchte ich so gern an dem Fünkchen Hoffnung, das er in meinem Inneren entfacht hat, festhalten. Gerne würde ich ihren Brief als Erinnerung bei den anderen Sachen aufbewahren, doch das ist zu riskant. Ich werde den einzigen Beweis dafür, dass Großmama noch lebt, zerstören müssen. In den Wiederverwertungsbehälter kann ich ihn nicht tun. Dad hat einen Aktenvernichter, aber ich werde den Brief ganz sicher nicht in sein Büro bringen, nicht einmal in zerstückelter Form. Schließlich stopfe ich Brief und Postkarte wieder vorne in die Jeans, gehe ins Badezimmer und schließe die Tür ab. Dann reiße ich einige Fetzen von beidem ab und sehe zu, wie sie in die Toilette flattern. Sie treiben wie winzige Boote auf ruhiger See, bis ich die Spülung betätige und sie in ihr nasses Grab hinabgesaugt werden.
Ich zerreiße das Papier in sehr kleine Stücke – immer nur ein paar Buchstaben pro Fetzen. Die wichtigsten Sätze aus Großmamas Brief werde
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