Neva
perfekt zusammen. Ich erlaube mir nicht, an Sanna zu denken. Ich sperre das Schuldgefühl aus, das mich allmählich auffrisst. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit spüre ich diese finstere Einsamkeit in meinem tiefsten Innern nicht mehr.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, meint Braydon und blinzelt, um die Hausnummern erkennen zu können. Wir haben das Motorrad abgestellt und suchen nun zu Fuß nach Sengas Haus.
»Nummer 10 978 müsste eigentlich auf dieser Straßenseite sein.« Wir überqueren die Fahrbahn. »Bist du dir sicher, dass das hier tatsächlich die Blue Sky Crescent ist?« Ich schaue mich um, obwohl ich genau weiß, dass ich kein Straßenschild entdecken werde. Zum größten Teil sind sie längst verschwunden oder so verwittert, dass man sie nicht mehr lesen kann.
»Zumindest steht es so auf dieser Karte.« Braydon dreht den Plan um neunzig Grad. »Entweder ist dies die Blue Sky Crescent oder die Starry Night Lane. Wer hat sich bloß diese Namen einfallen lassen?«
Die meisten Häuser wirken unbewohnt. Viele Fenster sind vernagelt. Einige Eingangstüren stehen offen wie klaffende Münder, die im Schrei erstarrt sind. Manche Fenster haben eine andere Form, hier und da hat man eine Garage angefügt, aber grundsätzlich sehen alle Gebäude gleich aus. »Da. Das ist es, glaube ich.« Ich zeige auf ein Haus, das sich ein Stück die Straße hinauf befindet. Die Büsche sind säuberlich in Form geschnitten. Leicht angeschlagene Tontöpfe mit roten Geranien darin stehen links und rechts vom Eingang.
»Woher weißt du, dass wir ihr vertrauen können?«, fragt er und geht langsamer.
»Vertrau einfach mir.« Ich nehme seine Hand und ziehe ihn weiter. Als ich bemerke, was ich da tue, lasse ich ihn schnell wieder los. So geht das schon den ganzen Morgen zwischen uns: Wir kommen uns näher, bis einer von uns an Sanna denkt und rasch auf Abstand geht.
Ich klopfe an die Tür zu Nummer 10 978 . Braydon bleibt hinter mir stehen wie ein Bodyguard, der die Gegend nach Bedrohungen absucht. Die Tür öffnet sich, und Senga winkt uns hinein. »Wir sind Freunde von …«, beginne ich, sobald sie die Tür hinter uns zugemacht hat.
»Ich erinnere mich an dich«, unterbricht sie mich. »Kommt mit.« Die Frau hat ihr Haar auf rosa Lockenwickler gedreht und trägt einen fadenscheinigen grauen Bademantel. Als sie sich schlurfend in Bewegung setzt, bemerke ich die zerschlissenen Häschenpantoffeln an ihren Füßen. Darüber muss ich lächeln, obwohl ich mich plötzlich aus irgendeinem Grund weniger sicher fühle. Natürlich hätte Mom mich nicht hergeschickt, wenn ich hier nicht sicher wäre. Sanna hätte nicht an der Demonstration teilgenommen, wenn Senga nicht vertrauenswürdig gewesen wäre. Doch als ich mich nach Braydon umsehe, erkenne ich, dass er dieselben Bedenken hat wie ich.
Sie führt uns in den Garten. »Setzt euch.« Damit deutet sie auf einen rostigen Metallstuhl, eine geflochtene Gartenliege, bei der die Hälfte der Bänder fehlt, und ein Dreirad. Ich nehme das Kinderfahrzeug, Braydon bleibt stehen, und sie lässt sich behutsam auf der Liege nieder. »Entschuldigt, dass ich euch nichts zu trinken anbieten kann. Bei drei Kindern behalten wir meist nicht viel übrig.«
Dass sie »wir« gesagt und Kinder erwähnt hat, bringt mich durcheinander. Wo mag ihre Familie gerade sein? Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, fügt sie hinzu: »Mein Mann ist bei der Arbeit, die Kinder in der Schule …«
»Sanna ist verhaftet worden«, platze ich heraus. Ihr rundes, volles Gesicht scheint länger zu werden, wenn sie wie jetzt die Stirn runzelt. »Ich habe gehofft, dass Sie uns vielleicht helfen können, sie zu finden.«
Senga sieht zu Braydon hinüber. Es ist deutlich zu spüren, dass sie über seine Anwesenheit nicht besonders glücklich ist. »Ich weiß nicht«, erwidert sie zögernd.
»Wohin kann man sie denn gebracht haben?«, fragt Braydon. Auch er fühlt sich nicht wirklich wohl. Er tritt von einem roten Stiefel auf den anderen.
»Hör zu«, meint Senga zu mir. »Ich tue hiermit deiner Mutter einen Gefallen. Ich habe ihr versprochen, dass ich dir helfen würde, nach Norden zu fliehen.« Braydon bedenkt mich mit einem vielsagenden Blick. Ich war nicht hundertprozentig aufrichtig zu ihm, das wird ihm nun klar. Senga scheint die Temperaturschwankungen zwischen ihm und mir gar nicht zu bemerken. »Ihn hat allerdings niemand erwähnt«, fährt sie fort und zeigt auf Braydon.
»Er
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