Nevada Pass
das schwere Bremsrad. Auf der anderen Seite des Ofens stand ein Polstersessel, und daneben lag eine Matratze, auf der sich Stapel von fadenscheinigen Armeedecken und Bärenfelle türmten.
Kaum sichtbar in dem riesigen Sessel saß ein Mann, den man wohl am besten mit Hilfe des alten Klischees als ›im Dienst ergrauten Veteran‹ beschreiben konnte. Er hatte eine Nickelbrille auf der Nase und las ein Buch. Die weißen Bartstoppeln in seinem Gesicht waren mindestens vier Tage alt, und sein Haar – wenn er überhaupt welches besaß – war unter einer Kopfbedeckung verborgen, die aussah wie eine holländische Schiffermütze, die er sich – wohl um die Kälte abzuhalten – tief über die Ohren gezogen hatte. Er war in mehrere nicht genau definierbare Kleidungsschichten gehüllt, deren Krönung eine Eskimojacke aus ebenfalls nicht näher zu bestimmendem Pelz bildete. Und um ganz sicher vor selbst dem kleinsten Luftzug zu sein, hatte er noch eine dicke Navajodecke über sich gebreitet, die von seiner Taille bis auf seine Füße hinunterreichte.
Als Claremont eintrat, richtete sich der Bremser auf, nahm höflich die Brille ab und sah Claremont mit blaßblauen, wäßrigen Augen an. Er blinzelte überrascht und sagte: »Das ist aber eine Ehre, Colonel Claremont.« Obwohl mehr als sechzig Jahre vergangen waren, seit der Bremser zum ersten und einzigen Mai den Atlantik überquert hatte, war sein irischer Akzent noch so ausgeprägt, als habe er das heimatliche Connemara erst tags zuvor verlassen. Er machte Anstalten aufzustehen – ein Vorhaben, das angesichts seiner Vermummung so gut wie aussichtslos war – aber Claremont bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. Der Bremser gehorchte bereitwillig und warf einen vielsagenden Blick auf die offene Tür.
Claremont beeilte sich, sie zu schließen und sagte dann: »Sie sind Devlin, nicht wahr?«
»Seamus Devlin, zu Diensten, Sir.«
»Sie führen hier ein ziemlich einsames Leben, was?«
»Das hängt davon ab, was Sie unter Einsamkeit verstehen, Sir. Sicher – ich bin allein, aber einsam bin ich nie.« Er klappte das Buch zu. »Einsam ist es drüben in der Lokomotive. Natürlich ist der Heizer da, aber man kann nicht mit ihm reden, weil der Lärm viel zu groß ist. Und wenn es regnet oder schneit oder hagelt, muß man immer wieder den Kopf in die Kälte hinausstrecken, um zu sehen, wohin man fährt, so daß man entweder schwitzt oder friert. Ich kenne das – ich war selbst fünfundvierzig Jahre Lokführer. Aber vor ein paar Jahren hab ich damit Schluß gemacht.« Er sah sich mit einigem Stolz um. »Ich glaube, ich hab hier den besten Job, den es auf der Union Pacific gibt. Meinen eigenen Ofen, mein eigenes Essen, mein eigenes Bett, meinen eigenen Sessel –«
»Danach wollte ich Sie gerade fragen«, sagte Claremont. »Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, daß dies die serienmäßige Einrichtung der Bremswagen der Union Pacific ist.«
»Ich habe die Sachen irgendwo aufgelesen«, erklärte Devlin vage.
»Dauert's noch lange bis zur Pensionierung?«
Devlin lächelte fast verschwörerisch. »Sie sind – wie sagt man – sehr diplomatisch? Ja, richtig, diplomatisch. Na schön, Sir, Sie haben recht, ich bin leider etwas alt für den Job, aber dummerweise ist meine Geburtsurkunde schon vor Jahren verschwunden, und das machte die Sache für die Union Pacific etwas schwierig. Aber dies ist auf jeden Fall meine letzte Reise, Colonel. Wenn ich wieder im Osten bin, mache ich es mir für den Rest meiner Tage bei meiner Enkelin am Kamin gemütlich.«
»Möge der Himmel Ihnen die Holzscheite nie knapp werden lassen«, murmelte Claremont.
»Was? Ich meine, wie bitte, Colonel?«
»Nichts. Sagen Sie mal, Devlin, wie vertreiben Sie sich hier eigentlich die Zeit?«
»Na ja, ich koche und esse und schlafe und –«
»Richtig, wie steht's mit dem Schlafen? Wenn eine gefährliche Kurve kommt oder eine steile Senke und Sie schlafen, was geschieht dann?«
»Keine Sorge, Sir. Chris – ich meine Banlon, der Lokführer – und ich, wir haben uns da eine ganz schlaue Sache zusammengebastelt. Es ist nichts weiter als ein Draht in einer Rohrleitung, aber es funktioniert. Chris zieht ein halbes dutzendmal daran, dann läutet hier die Glocke, und dann ziehe ich einmal, damit er weiß, daß ich noch unter den Lebenden weile, wie man so sagt. Und dann zieht er einmal oder zwei-, drei- oder viermal, je nachdem wie stark ich bremsen soll. Und bis jetzt ist noch nie was schiefgegangen,
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