Never Knowing - Endlose Angst
denn als ich ihm antwortete und ihn fragte, was das zum Teufel bedeuten sollte, meldete er sich Sekunden später zurück. »Das bedeutet, dass Sie Ihre Sache heute großartig gemacht haben. Und jetzt ab ins Bett!«
Ich lachte und schickte ihm ein schnelles
Sie aber auch!
, dann schaltete ich den Computer aus. Als ich gerade ins Bett wollte, klingelte das Festnetztelefon. Ich dachte, es wäre Evan, der mir gute Nacht sagen wollte, aber es war John.
»Hi, John. Alles in Ordnung?«
»Ich wollte nur kurz deine Stimme hören, ehe ich für heute Abend Schluss mache.«
Ich erschauderte, doch ich sagte: »Das ist nett von dir.«
»Ich habe unser Gespräch heute wirklich genossen.«
»Ich auch. Ich fand es schön, dass du mir von deiner Familie erzählt hast.«
»Warum?«
»Na ja …« Ich hatte nicht erwartet, dass er nach Einzelheiten fragen würde. »Die anderen Kinder in der Schule, meine Freunde, mit denen ich aufgewachsen bin, sie wussten alle, wo sie herkamen. Aber meine Vergangenheit war nur ein schwarzes Loch. Ich hatte das Gefühl, dadurch von normalen Menschen getrennt zu sein, als wäre ich irgendwie anders oder seltsam. Ich glaube, endlich ein paar Geschichten zu hören, gibt mir das Gefühl, normal zu sein.«
»Es ist schön, dich kennenzulernen.« Er schwieg, dann sagte er: »Beim Abendessen habe ich darüber nachgedacht, was du mir vorhin erzählt hast.«
»Was genau meinst du?«
»Dass du leicht die Beherrschung verlierst … ich werde auch leicht wütend.«
Jetzt wird es spannend.
»Was für Sachen machen dich wütend?«
»Das ist schwer zu erklären. Nachher verstehst du mich nicht.«
»Ich würde es gern versuchen. Ich möchte dich auch besser kennenlernen.« Ich meinte es ernst. Nicht nur, weil er vielleicht etwas verraten könnte, das den Cops half, ihn zu fassen; ich wollte auch wissen, wie viel wir gemeinsam hatten.
Darauf sagte er nichts, also fuhr ich fort: »Als du neulich angerufen hast, klang es, als hättest du Schmerzen.«
»Es geht mir gut. Habe ich dir schon erzählt, dass wir eine Ranch hatten, als ich ein kleiner Junge war?«
Frustriert, weil er schon wieder das Thema wechselte, holte ich tief Luft und sagte: »Nein, aber es muss toll gewesen sein, so aufzuwachsen. Wie viel Land hattet ihr?« Ich hoffte, dass er erwähnen würde, aus welcher Gegend er kam.
»Etwa vier Hektar, am Fuß eines Berges.« Er klang aufgeregt. »Die Nachbarn haben ständig kranke Tiere zu meiner Mom gebracht. Sie benutzte nur Naturmedizin, Beinwell gegen Husten und so was. Sie hat Küken und Kätzchen in ihrer Schürze herumgetragen, um sie warmzuhalten, und sie konnte beinahe Tote wieder lebendig machen.« Er lachte glücklich. »Wir hatten viele Hofhunde, als ich klein war, und die hatten immer Welpen. Die kleinste, Angel, gehörte mir. Sie war halb Husky, halb Wolf – ich habe sie mit der Flasche großgezogen. Sie ist mir überallhin gefolgt …« Seine Stimme wurde leise. »Aber dann ist sie weggelaufen. Meine Mutter sagte, das sei ihre Natur. Ich habe versucht, sie zu finden, aber sie war einfach weg.«
»Ich … das tut mir leid.«
»Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe, Sara. Gute Nacht.«
Ich konnte stundenlang nicht einschlafen.
Ich hatte gehofft, ich würde mich nach dem Gespräch mit Ihnen besser fühlen. Aber so langsam komme ich zu dem Schluss, dass mir nichts helfen kann. Genauso, wie ich denke, dass sie John niemals fassen werden. Der zweite Anruf kam von nördlich von Mackenzie, aus der Nähe von Chetwynd im Vorland der Rocky Mountains. Sie dachten, sie hätten etwas, als ein Rancher aus der Gegend einen Truck meldete, der am Straßenrand stand, doch es stellte sich heraus, dass es nur zwei Jäger waren. Auf einer Landkarte habe ich alle Stellen markiert, von denen aus John angerufen hat. Jedes Mal war er physisch weiter von mir entfernt, ist aber immer tiefer in meinen Kopf eingedrungen und hat meine Sichtweise durcheinandergebracht. Als hätte mich jemand umgestülpt, und jetzt sieht alles anders aus, fühlt sich sogar anders an.
Es ist ja verständlich, dass ich aus dem Lot geraten bin, wenn man das alles in Betracht zieht, aber das Gefühl geht sogar noch tiefer. Es ist eher eine Umwälzung, die bis an den Kern geht. Wie bei einem Vulkan, der jahrelang vor sich hin brodelt und dann eines Tages explodiert. Ich sage nicht, dass ich explodieren werde, obwohl das durchaus möglich ist, aber es fühlt sich an, als sei etwas Großes in mir aufgeplatzt. Vielleicht,
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