Never Knowing - Endlose Angst
weil ich mich jahrelang, sobald mir irgendetwas an meiner Familie nicht gefiel, mit der Tatsache getröstet habe, dass ich irgendwo da draußen richtige Eltern habe.
Es ist, als hätte ich immer gedacht, man hätte mir das falsche Leben gegeben, und ich bräuchte nur das
richtige
zu bekommen, und schon wäre alles gut. Doch jetzt stelle ich fest, dass es kein richtiges Leben gibt. Oder dass das richtige im Grunde das falsche ist oder … wie auch immer, Sie wissen schon, was ich meine. Aber dann denke ich wieder an meinen Jähzorn, daran, wie leicht mir die Hand oder die Zunge ausrutscht, ich denke an Allys Koller, an die Grenze, die wir beide manchmal überschreiten, wenn wir die Beherrschung verlieren, und ich frage mich, ob wir nicht doch in dieses andere Leben gehören, zu der anderen Familie.
Als ich Ihnen am Anfang erzählte, ich hätte meine Mutter gefunden, sagte ich, es fühle sich an, als stünde ich auf knackendem Eis. Jetzt fühlt es sich an, als sei ich eingebrochen und direkt ins eiskalte Wasser gestürzt. Ich kämpfe mich zurück an die Oberfläche, meine Lungen brennen, alles in mir konzentriert sich auf diesen Lichtfleck über mir. Ich schaffe es tatsächlich, ihn zu erreichen, aber das Loch ist bereits wieder zugefroren.
10. Sitzung
Noch nie in meinem Leben habe ich solche Angst gehabt. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich tatsächlich geglaubt habe, bei John das Ruder in der Hand zu haben. Ich bin so ein
Idiot
. Sie hatten mich gewarnt, zu selbstsicher zu sein. Habe ich tatsächlich geglaubt, ich hätte die Kontrolle über ihn, nur weil er mich über meine Werkzeuge und meine Arbeit ausgefragt und mir von seinem
Hund
erzählt hat? Er hat die Macht, und wissen Sie, warum? Weil ich mich vor ihm fürchte, und das weiß er.
Am Tag nach unserer letzten Sitzung bekam ich ein weiteres Paket. Ich wusste, ich sollte auf Sandy und Billy warten, aber ich wollte wissen, ob er mir noch ein Werkzeug geschickt hatte. Ich überlegte kurz, warum mir das wichtig war, aber dann schob ich den Gedanken beiseite. Ich schüttelte das Paket, hörte aber nichts. Nachdem ich ein Paar Handschuhe geholt hatte, schnitt ich die Verpackung vorsichtig auf und holte eine kleinere Schachtel heraus. Was, wenn es der Schmuck eines weiteren Opfers wäre? Ich rang eine halbe Sekunde mit mir, ob ich Billy anrufen sollte, dann hob ich den Deckel der Schachtel an.
Eine kleine, rustikale Metallpuppe, vielleicht zehn Zentimeter groß und an den Schultern vier Zentimeter breit, lag auf ein Baumwollpolster gebettet vor mir. Der Körper schien aus einem schweren dunklen Metall wie Eisen oder Stahl zu bestehen. Die Arme und Beine waren dick und gerade wie bei einem Zinnsoldaten. Hände und Füße bestanden aus runden Metallkugeln. Die Figur trug einen kleinen Jeansrock und ein gelbes T-Shirt. Die Stoffe waren fein und aufwendig genäht. Der Kopf der Puppe war ebenfalls eine runde Metallkugel. Aber sie hatte kein Gesicht, weder Mund noch Augen.
Langes, glattes braunes Haar mit Mittelscheitel klebte oben auf dem Kopf. Unter den Strähnen waren schwache Spuren vom Klebstoff zu erkennen, aber man musste schon genau hinsehen. Warum hatte John mir das geschickt? Ich schaute noch einmal im großen Karton nach, um zu sehen, ob eine Nachricht dabeilag, aber er war leer. Ich blickte wieder auf die Puppe. Staunte über die Kleidung, die Haare.
Die Haare.
Ich legte die Puppe zurück in die Schachtel und rief Billy an. Zwanzig Minuten später waren er und Sandy bei mir. Ich wartete auf der Auffahrt, wanderte mit Elch auf dem Arm auf und ab, als Billy auf der Fahrerseite des SUV ausstieg.
»Es ist in der Küche«, sagte ich.
»Bei Ihnen alles Ordnung?«
»Ich drehe gleich
durch
.«
»Wir werden es so schnell wie möglich hier rausschaffen.« Er drückte rasch meine Schulter und kraulte Elch am Kopf.
Sandys erste Worte, als sie den SUV verlassen hatte, waren: »Hatten wir nicht vereinbart, dass Sie sich bei uns melden, sobald ein Paket ankommt?«
»Ich habe meine Meinung geändert.« Ich ging auf das Haus zu.
»Sara, das ist eine polizeiliche
Ermittlung
.« Sie folgte mir dicht auf den Fersen, als wir die Vordertreppe erreichten.
»Ich weiß, was es ist.« Ich verdrängte den Impuls, ihr die Tür ins Gesicht zu knallen, als ich ins Haus ging.
»Sie könnten Beweisstücke beschädigen.«
Ich wirbelte herum. »Ich habe
Handschuhe
getragen.«
»Das bedeutet noch lange nicht …«
Billy sagte: »Komm schon, Sandy. Sehen wir uns
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