Never Knowing - Endlose Angst
Stimme war kalt.
»Ich weiß, natürlich. Ich meine nur, wenn ich dich verstehe, hilft es mir dabei, mich zu verstehen. Manchmal …« Ich stellte mir vor, wie Sandy und Billy zuhörten, und blendete sie aus. »Manchmal habe ich schreckliche Gedanken.«
»Zum Beispiel?«
»Ich verliere oft die Beherrschung. Ich arbeite daran, aber es ist schwer.« Ich machte eine Pause, aber er sagte nichts, also fuhr ich fort: »Manchmal habe ich das Gefühl, es würde sich eine Art Dunkelheit über mich legen, und dann sage ich furchtbare Sachen oder mache etwas echt Dummes. Jetzt, wo ich älter bin, ist es besser geworden, aber ich mag diese Seite von mir nicht. Als ich jünger war, habe ich sogar eine Zeitlang Drogen genommen und getrunken, nur um das alles zu verdrängen. Und ich habe ein paar Sachen gemacht, die ich wirklich bereue, so dass ich eine Therapie angefangen habe.«
»Gehst du da noch hin?« Würde er das schlecht finden, oder würde es ihn ermutigen, selbst Hilfe zu suchen? Als ich immer noch zögerte, sagte er: »Sara?«
»Manchmal.«
»Sprichst du dort über mich?«
Der Tonfall seiner Stimme verriet mir, wie die Antwort lauten musste. »Nein, das würde ich nie tun, es sei denn, du hättest nichts dagegen.«
»Ich habe was dagegen.«
»Kein Problem.« Ich versuchte, ungezwungen zu klingen. »Kannst du mir vielleicht irgendetwas über deine Eltern erzählen? Das ist so eine Sache, wenn man adoptiert ist … man kennt seine eigene Geschichte nicht.« Beide Großelternpaare waren inzwischen verstorben, aber ich erinnere mich noch an Moms bärbeißigen deutschen Vater und dass ihre Mom kaum Englisch sprach. Ständig wuselte sie in der Küche herum, als fürchtete sie sich davor, innezuhalten. Dads Vater war Zimmermann und seine Mutter Hausfrau. Sie waren nett zu mir, aber irgendwie
zu
nett. Sie gaben sich so viel Mühe, damit ich mich als Teil der Familie fühlte, dass ich mich erst recht anders fühlte. Meine Großmutter betrachtete mich stets mit besorgter Miene, an der Tür bekam ich eine Extra-Umarmung und einen zusätzlichen Kuss.
John sagte: »Was möchtest du wissen?«
»Wie war dein Dad?«
»Er war Schotte. Wenn er was gesagt hat, hat man zugehört.« Ich stellte mir einen riesenhaften Mann mit roten Haaren vor, der John mit deutlichem Akzent anbrüllte. »Aber ich habe gelernt zu überleben.«
»Überleben?« Er führte das nicht näher aus, also sagte ich: »Was hat er beruflich gemacht?«
»Er hat als Holzfäller gearbeitet, bis zu dem Tag, als er starb. Er hatte einen Herzanfall und hat trotzdem noch eine fünfzig Meter hohe Douglasie geschlagen.« John lachte. »Er war ein gemeiner Hurensohn.« Er lachte erneut, und ich fragte mich, ob er das immer machte, wenn er sich unbehaglich fühlte.
»Und was ist mit deiner Mutter? Wie war sie?«
»Sie war eine gute Frau. Sie hatte es nicht leicht.«
»Sie sind also beide schon tot?«
»Ja. Was für Filme siehst du dir gerne an?«
Von dem abrupten Themenwechsel aus dem Konzept gebracht, brauchte ich einen Moment, um zu antworten.
»Filme … ganz verschieden. Sie müssen Tempo haben – ich langweile mich schnell.«
»Ich auch.« Er schwieg ein paar Sekunden, dann sagte er: »Genieß den Rest des Tages, Sara. Wir reden bald weiter.«
Direkt im Anschluss rief ich Billy an, aber er schaffte es erst zehn Minuten später, zurückzurufen. In der Zwischenzeit lief ich ruhelos auf und ab. Er erzählte mir, dass John jetzt irgendwo in der Nähe von Mackenzie sei, also nordöstlich von Prince George. Das Gebiet besteht fast ausschließlich aus Naturschutzgebieten und Bergketten, so dass er erneut verschwunden war, aber Billy sagte, ich hätte diesen Anruf perfekt hingekriegt und es sähe aus, als würde John tatsächlich eine Beziehung zu mir aufbauen. Er machte mir auch nicht die Hölle heiß, weil ich das Paket geöffnet hatte, sondern zeigte Verständnis. John habe mich in Bedrängnis gebracht. Er sagte, sie würden das Paket bald abholen. Sie glauben, dass er es möglicherweise in Prince George abgeschickt hat. Das leuchtet ein, denn es ist der größte Ort im Norden, mit mehreren Paketannahmestellen, so dass John weniger Gefahr lief aufzufallen. Dann erinnerte Billy mich daran, sofort anzurufen, falls John noch etwas schickte. Später sandte er mir eine E-Mail mit einem coolen Zitat:
Kenne den Feind,
kenne dich selbst,
und in einhundert Schlachten
steht der Sieg
außer Zweifel.
Er muss noch an seinem Computer gesessen haben,
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