Never tell a lie - Lügen können töten - Psychothriller
hatte die Arme vor der Brust gekreuzt. An ihrem gequälten Gesichtsausdruck war zu erkennen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wie irgendjemand auch nur einen Cent für dieses Gerümpel bezahlen könnte.
»Was meinst du?«, fragte David. »Wenn sich der Ansturm gelegt hat, könnten wir ein paar von den Babysachen aufstellen.«
»Noch nicht«, wehrte Ivy ab. Sie rieb über den kobaltblauen Stein in der Mitte der silbernen Hand, die sie als Talisman an einer Kette um den Hals trug. Der Glücksbringer hatte einmal ihrer Großmutter gehört. Sie wusste, dass es nur törichter Aberglaube war, aber sie wollte, dass alle Babysachen in dem unbenutzten Zimmer verstaut blieben, bis das kleine Mädchen geboren war und sie alle ihre Finger und Zehen gezählt und geküsst hatte.
»Entschuldigung!« Eine Frau sah unter dem Schirm ihrer Red-Sox-Mütze hervor und musterte Ivy. Sie hielt eine limonengrüne Pressglasschale in der Hand, die wie ein Schwan geformt war und sich in einem Karton mit mäusezerfressenen Wachsfrüchten befunden hatte.
»Die können Sie für fünfzehn Dollar haben«, sagte Ivy. »Sie hat nicht den kleinsten Sprung.«
»Ivy?« Die Frau mit den zimtfarbenen Locken und den silberblonden Strähnchen sah sie ein wenig verwundert an. »Erinnerst du dich nicht an mich?«
»Ich …« Ivy zögerte. Irgendetwas an dieser Frau in
der blau und gelb geblümten Umstandsbluse aus Baumwolle kam ihr bekannt vor. Die Frau hatte eine Hand mit rosa lackierten und perfekt gefeilten Fingernägeln auf ihren Bauch gelegt. Sie war ebenso hochschwanger wie Ivy.
»Mindy White«, sagte die Frau. »Damals Melinda.«
Melinda White - der Name weckte die Erinnerung an ein pummeliges Mädchen aus der Highschool. Krauses, braunes Haar, Brille und ein teigiges Gesicht. Es war kaum zu glauben, dass diese Frau dieselbe Person von damals sein sollte.
»Natürlich erinnere ich mich an dich«, versicherte Ivy. »Donnerwetter, du siehst großartig aus! Und herzlichen Glückwunsch. Dein erstes?«
Melinda nickte und trat einen Schritt näher heran. Sie lächelte. Ihre einstmals schiefen Zähne waren begradigt und sahen perfekt aus. »Erwartest du nicht auch dein erstes?«
Ivy wich ihrem prüfenden Blick aus.
»Ich bin an Thanksgiving dran«, fuhr Melinda fort. »Und du?«
»Im Dezember«, erwiderte Ivy. Tatsächlich erwartete sie ihr Baby ebenfalls an Thanksgiving, aber sie hatte allen, sogar ihrer besten Freundin Jody, gesagt, dass der Termin erst zwei Wochen später sei. Gegen Ende der Schwangerschaft würden David und sie sich schon allein genug Sorgen darüber machen, wann die Wehen anfangen und ob diesmal wieder irgendetwas schiefgehen würde.
Melinda legte den Kopf zur Seite und musterte Ivy.
»Eine glückliche Ehe, ein Baby, das jeden Augenblick kommen kann. Was habt ihr beiden nur für ein Glück! Ich meine, kann man mehr verlangen?«
Auf eine solche Bemerkung hin hätte Großmutter Fay Kinehora! gerufen und ausgespuckt, um den bösen Blick abzuwehren. Ivy griff nach dem Amulett an ihrem Hals.
Melinda ließ den Blick zum Haus schweifen. »Und dann natürlich dieses fantastische viktorianische Haus. Solltet ihr es jemals verkaufen wollen, sagt mir Bescheid. Ich arbeite bei einem Makler.«
»Sammelst du Pressglas?« Ivy deutete auf den Schwan.
»Nein, aber meine Mutter sammelt Schwäne - oder jedenfalls hat sie das getan. Dieses Stück hätte sie sich augenblicklich geschnappt … aber das war, bevor« - Melinda tippte sich mit einer halbleeren Mineralwasserflasche an den Kopf - »Alzheimer! Sie hat ihr Haus hier in Brush Hills verkauft und ist nach Florida zu meiner Schwester Ruth gezogen. Erinnerst du dich an Ruthie? Sie sammelt auch Schwäne.« Melinda brachte die Worte stoßweise hervor und trat dabei so dicht an Ivy heran, dass sie nur noch eine halbe Armlänge voneinander entfernt standen. Ivy hatte das Gefühl, als käme eine stampfende Lokomotive auf sie zu.
»Dies hier wäre genau richtig für sie.« Melinda sah den Schwan bewundernd an. »Zu Weihnachten. Oder vielleicht zum Geburtstag. Wenn meine Mutter«, Melinda schob den Riemen ihrer vollgestopften weißen Segeltuchtasche höher auf die Schulter und holte tief Luft, »wenn sie irgendwann mal ihren letzten Atemzug tut, wird Ruthie vermutlich die ganze Sammlung haben wollen.
Du hast keine Schwester und auch keinen Bruder, oder? Ich hätte dieses Haus, ehrlich gesagt, nicht wiedererkannt«, fuhr sie fort, ohne Ivys Antwort abzuwarten. »Ich bin andauernd hier
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