Neville, Katherine - Der magische Zirkel
gewartet hatte. Der Mond hing tief über dem westlichen Horizont. Unser Feuer war zu einem Häuflein glühender Asche niedergebrannt.
Und dann hörte ich es. Ich war mir nicht sicher, aber es hörte sich an, als atmete je mand ganz in der Nähe. Ich wurde nervös, aber Sam verstärkte warnend den Druck seiner Finger, damit ich still blieb. Ich hielt den Atem an. Nun schien es noch näher zu sein, direkt hinter meinen Ohren, ein heiseres, angestrengtes Atemgeräusch. Und dann roch ich den warmen, berauschenden Duft von etwas, das gewaltig und wild sein mußte. Einen Moment später sah ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Ich blickte starr geradeaus. Ich wagte nicht einmal zu zwinkern, und mein Herz schlug wie wild. Als sich die flüchtige Bewegung zu einem Bild in meinem Blickfeld fügte, wurde ich fast ohnmächtig vor Schreck. Nur wenige Schritte von mir entfernt stand ein ausgewachsener Puma.
Sam drückte meine Hand noch fester, damit ich mich ja nicht bewegte, aber ich war ohnehin wie erstarrt vor Angst. Selbst wenn ich versucht hätte aufzustehen – ich hätte nicht gewußt, ob mich meine Beine tragen würden. Der Puma glitt lautlos und wie in Zeitlupe durch den Kreis. Nur das gleichmäßige heisere Atmen, das fast wie ein Schnurren klang, war zu hören. Dann blieb er neben dem verlöschenden Feuer stehen, wandte langsam und anmutig den Kopf und sah mich an.
Dann schienen mehrere Dinge gleichzeitig zu passieren. Im Gebüsch auf der anderen Seite des Kreises raschelte und knackte es plötzlich. Der Puma blickte über die Schulter in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und zögerte. Sam packte meine Hand. Und dann taumelte ein dunkles Etwas aus dem Unterholz und lief in den Kreis. Es war ein Bärenjunges!
Der Puma schnaubte und bewegte sich auf den kleinen Bären zu. Doch da schoß aus dem Dickicht hinter dem kleinen Bären eine riesige Bärin hervor. Mit einer schwungvollen Bewegung ihrer Tatze schob sie ihr Junges hinter sich, und dann richtete sie sich drohend auf den Hinterbeinen auf – eine riesige Silhouette, die den Mond verdeckte. Der überraschte Puma huschte über den Rand des Plateaus und verschwand im dunklen Wald. Sam und ich saßen da wie versteinert, während sich die Bärin wieder auf alle viere niederließ und an den Rand unseres Lagerfeuers kam. Sie schnüffelte ein paarmal an meinem kleinen Rucksack und wühlte dann herum, bis sie meinen Apfel fand. Sie nahm ihn ins Maul und brachte ihn ihrem Jungen. Dann stupste sie den Kleinen mit der Nase vor sich her in Richtung des Dickichts, aus dem sie gekommen waren.
Sam und ich blieben noch eine halbe Stunde lang still, bis der Himmel langsam hell wurde. Schließlich drückte er leicht meine Hand und flüsterte:
«Hotshot, ich denke, du hast heute nacht auch dein tiwa-titmas gehabt. Wer weiß, wonach der Berglöwe gesucht hat, aber er hat bestimmt den richtigen Menschen gefunden – Ariel, die mit dem Löwenherzen.»
«Und zu dir sind sie auch gekommen – deine Totembären!» flüsterte ich aufgeregt.
Sam stand auf und half mir auf die Beine, und dann umarmte er mich wie ein großer Bär.
«Wir sind gemeinsam in den magischen Zirkel eingedrungen, Ariel, und wir haben sie gesehen – den Löwen und den Großen und Kleinen Bären. Verstehst du, was das bedeutet? Unsere Totemtiere haben uns gezeigt, daß sie wirklich unser Totem sind. Sobald die Sonne aufgeht, mischen wir unser Blut, damit wir Blutsbrüder sind. Danach wird für uns beide alles anders. Du wirst schon sehen.»
Und es hatte sich wirklich alles geändert, genau wie Sam es vorausgesagt hatte. Aber das war fast achtzehn Jahre her, und heute nacht, in Wolfgangs Bett unter dem kreisenden Firmament, war mein Totem zum ersten Mal seit meiner Kindheit wieder in einem Traum zu mir gekommen.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, wurde ich ziemlich rasch gewahr, daß ich nicht mit Sam auf einem Berggipfel saß und die Sonne aufgehen sah. Ich lag allein im Bett auf dem obersten Geschoß von Wolfgangs Burg, umgeben von Daunenkissen und seidenen Bettdecken, und die Sonne durchflutete bereits den ganzen Raum. Wie spät war es? Erschrocken setzte ich mich auf.
Im selben Augenblick erschien Wolfgang in Jeans und einem grauen Kaschmirpullover mit Rollkragen. Er brachte ein Tablett mit Tassen und Tellern, heißer Schokolade, frischen Brötchen und noch warmen Croissants. Ich nahm eines der dunklen knusprigen Brötchen, während sich Wolfgang auf das Bett setzte und die Schokolade
Weitere Kostenlose Bücher