Neville, Katherine - Der magische Zirkel
ich: «Ich dachte, er heißt Hans.»
«Wer?» sagte Wolfgang, während er den Wagen wendete und vorsichtig über die Zugbrücke hinausfuhr.
«Der Mann, den du eben Klaus genannt hast», sagte ich. «Gestern abend, als uns dein Hausverwalter gefolgt ist, hast du gesagt, sein Name ist Hans.» Ich hielt es nicht für nötig zu erwähnen, daß mir der Mann schon gestern irgendwie verdächtig vorkam.
«Ganz recht: Hans Klaus», sagte Wolfgang. «Hier nennt man solche Leute meistens beim Familiennamen. Vielleicht habe ich ihn gestern beim Vornamen genannt.»
«Bist du sicher, daß er nicht Klaus Hans heißt?» fragte ich. Wolfgang hob eine Augenbraue und sah mich mit einem
fragenden Lächeln an. «Ist das ein Verhör? Ich fürchte, so etwas bin ich nicht gewöhnt. Ich kann jedoch von mir behaupten, daß ich die Namen meiner Angestellten kenne.»
«Okay», räumte ich ein. «Wie steht es dann mit deinem Namen? Du hast mir gegenüber nie erwähnt, daß es einmal jemand gab, der ebenfalls Kaspar Hauser hieß.»
«Aber ich dachte, die Geschichte würdest du kennen», antwortete er, während wir zwischen den Weingärten ins Tal hinunterfuhren. «Der wilde Bub von Nürnberg, wie sie ihn genannt haben. Die Legende von Kaspar Hauser ist in Deutschland sehr berühmt.»
«Ja, inzwischen weiß ich das auch. Ich habe über ihn nachgelesen», sagte ich. «Aber du hast gesagt, du seist nach einem der biblischen Magi genannt worden. Vielleicht weißt du mehr über diesen Kaspar Hauser als ich. Es scheint, er ist vor allem wegen seiner dunklen Herkunft und der ungeklärten Umstände seiner Ermordung berühmt geworden. Ich finde es merkwürdig, einem Kind einen Namen zu geben, der solche Assoziationen hervorruft.»
Wolfgang lachte. «Ich habe auch an ihn denken müssen, als Dacian Bassarides gestern diese erstaunliche Geschichte von den sieben verborgenen Städten Salomos erzählte. Ich wollte gestern abend mit dir darüber sprechen, aber ich wurde etwas abgelenkt.» Er lächelte. «Nach dem, was Dacian gestern gesagt hat, glaube ich, daß alle diese Dinge mit der Hagalrune zusammenhängen.»
«Die Hagalrune?»
«Hagal bedeutete auf altdeutsch Hagel», sagte Wolfgang. «Und Hagel ist eines der zwei bedeutenden Symbole arischer Macht: Feuer und Eis. Das Hakenkreuz symbolisiert von alters her die Macht des Feuers. Es war in viele der orientalischen Feuertempel gemeißelt, von denen Dacian gestern sprach. Noch bedeutender ist, daß Nürnberg, die Stadt, in der Kaspar Hauser zum ersten Mal auftauchte, als der absolute geoma ntische Mittelpunkt Deutschlands gilt. Die drei Linien, die aus anderen Teilen Europas und Asiens kommend das Hagal- Runenkreuz bilden, treffen sich in Nürnberg, wo sie ein Machtzentrum bilden.»
Mich überlief es kalt, als Wolfgang eine Hand vom Steuer nahm und mit dem Finger ein Zeichen in die Luft malte, das so aussah wie das Bild, das auf meinem Computerbildschirm in jener Nacht erschien, als Sam mit mir heimlich Verbindung aufnahm.
Mein Herz klopfte laut. Ich wünschte, ich hätte mit Sam sprechen können. Ich hüllte mich enger in meinen Mantel, mehr um meine Hände zu beruhigen als wegen der morgendlichen Kühle. Wolfgang schien nichts zu bemerken. Er lenkte den Wagen wieder mit beiden Händen, und während er fuhr, erzählte er mir die folgende Geschichte.
Die Hagalrune
Schon vor dem Ende der Befreiungskriege praktizierten viele Bruderschaften oder geheime Gesellschaften ein Ritual, bei dem königliches Blut vergossen wurde.
Nach Kaspar Hausers Tod glaubten viele, der Junge sei adliger oder königlicher Herkunft gewesen, er sei bei der Geburt entführt und von Bauern unter absonderlichen Bedingungen aufgezogen worden, wie ein Tier, das als Opfergabe dienen sollte. Mit anderen Worten: Kaspar Hauser war sehr wahrscheinlich das Opfer eines heidnischen Rituals, das zu Beginn der neuzeitlichen Ära plötzlich in Nürnberg auftauchte. Der Boden Deutschlands war mit dem «königlichen Blut» Kaspar Hausers geweiht worden.
Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts erforschte man in Deutschland die völkischen Wurzeln des germanischen Volkes, des gemeinen Volkes oder der Bauern, wie sie in den nordischen Legenden und deutschen Sagen dargestellt wurden. Man wollte die traditionellen Werte und Bräuche wiederbeleben, von denen man glaubte, sie seien der Kern der deutschen Seele und würden wieder ein goldenes Zeitalter herbeiführen.
Die Hagalrune ist das neunte Zeichen des Runenalphabets. Neun ist eine sehr
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