Neville, Katherine - Der magische Zirkel
immer in den Gärten, Höfen und auf den Privatgrundstücken in Jerusalem die blumengeschmückten Zelte aus Zweigen, durch die die Sterne leuchten, der Wind bläst und der Regen auf die Familien und die Besucher tropft, die eine Woche lang darin wohnen und feiern, bis das Fest endet, wenn im Tempel das letzte Kapitel der Thora, der Tod Moses, vorgelesen wird zum Zeichen, daß damit ein alter Zyklus endet, so wie mit dem Tod Moses für unser Volk ein Zyklus endete.
Wenn der Gastgeber in der achten Nacht in seiner Hütte die Tafel aufhebt, spricht er ein Gebet, das älteste in der jüdischen Überlieferung, älter noch als das Fest selbst. Worum bittet er Gott? Natürlich um einen Gefallen: Er möchte dafür, daß er eine Woche lang «in einer Hütte gewohnt hat», im nächsten Jahr für würdig befunden werden, in der Hütte von Leviathan zu sitzen. Und was verkörpert die Hütte von Leviathan? Das bevorstehende neue Zeitalter, das Zeitalter des messianischen Königreichs, das mit dem Erscheinen eines mashiah, eines Gesalbten, beginnt, der das Seeungeheuer besiegen, dessen Haut für das Haus der Gerechten und dessen Fleisch für den messianischen Festschmaus verwenden wird. Er wird uns von Knechtschaft befreien und uns unter einem König vereinen. Er wird den Bogen zurückbringen und den Tempel erstrahlen lassen wie einst David und Salomo. Als der natürliche Nachfolger dieser mächtigen Könige wird er das auserwählte Volk zu Ruhm und Herrlichkeit führen und die goldene Morgendämmerung heraufziehen lassen – nicht nur eines neuen Jahres, sondern eines neuen Zeitalters.
Ihr seht also, es konnte kein Zufall sein, daß der Meister zu diesem Fest allein gekommen ist.
In der achten Nacht erschien er im Garten von Nikodemus, einem großen, mit Bäumen bepflanzten Park, wo wie immer bei diesem Fest zahlreiche Hütten aus Zweigen und Blumen errichtet waren, Fackeln brannten und die Tore für vorüberkommende Pilger und andere geöffnet waren.
Am Ende des Festes erhob sich der Meister von seinem Platz, schob Teller und Becher zur Seite und stieg auf den niederen Bronzetisch.
Mit einer Hand hielt er einen Wasserkrug in die Höhe und begann, das Wasser zu verschütten – auf den Tisch, den Boden und die Gäste, die erschrocken aufsprangen. Alle waren verwirrt; niemand wußte, was das bedeuten sollte. Dann warf der Meister den Krug auf den Boden, hob die Arme und rief: «Ich bin das Wasser! Ich vergieße mich für euch. Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.»
Später erinnerten sich die Anwesenden an seine volltönende Stimme und wie schön er gesprochen hatte, und erst dann wurde ihnen bewußt, daß sie eigentlich nicht die geringste Ahnung hatten, wovon er gesprochen hatte.
Als sich die Leute nach dem Abendessen zerstreuten, hörte Nikodemus zufällig ein Gespräch zwischen einigen seiner Pharisäergenossen. In Kajaphas Palast am anderen Ende der Stadt sollte noch an diesem Abend eine heimliche Sitzung stattfinden. Obwohl Nikodemus nicht eingeladen war, beschloß er hinzugehen, denn offensichtlich waren sogar die überzeugtesten Anhänger des Meisters von diesem merkwürdigen Auftreten schockiert und verwirrt.
Am nächsten Morgen ging Nikodemus zum Tempel, um den Meister zu suchen, bevor ihn die anderen finden würden. Er wollte ihn beschützen vor dem, was er vielleicht tun oder sagen würde, denn seine Worte wurden häufig sogar von den Jüngern falsch ausgelegt. In der Nacht zuvor hatte Kajaphas darauf bestanden, den Meister unter einem Vorwand zu verhaften, sobald er an diesem Morgen erscheinen würde – trotz des heftigen Widerspruchs von Nikodemus und den anderen; selbst Kajaphas eigene Tempelpolizei war dagegen.
Der Meister betrat kurz nach Nikodemus den Tempelhof. Er trug dasselbe weiße Gewand wie tags zuvor. Sofort umringte ihn eine Menge, darunter auch einige Teilnehmer der heimlichen Versammlung. Auf Kajaphas Veranlassung hin hatten sie eine Ehebrecherin mitgebracht. Sie stellten sie vor den Meister hin und fragten ihn, ob er der Meinung sei, daß sie die Frau steinigen sollten, wie es das Gesetz befahl. Es war eine Falle, denn sie wußten, daß der Meister an Vergebung glaubte, wenn solche Sünden bereut wurden.
Aber zum Erstaunen aller sagte der Meister nichts. Statt dessen setzte er sich auf die Erde und begann, mit dem Finger Figuren in den Staub zu zeichnen, als hätte er nicht gehört, was man zu ihm
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