Neville, Katherine - Der magische Zirkel
uns vor eine schwere Aufgabe gestellt», begann er mit seiner tiefen, volltönenden Stimme, die alle im Raum hören konnten. «Aber ungeachtet unseres Auftrags, unseres Wollens und ungeachtet des Ergebnisses der heutigen Sitzung glaube ich, für uns alle zu sprechen, wenn ich sage, daß heute niemand diesen Raum verlassen wird mit dem Gefühl vollkommener Zufriedenheit, was mit dieser bedauerlichen Sache des Jesua ben Josef von Nazareth zu tun hat. Wegen dieser Last, die auf uns liegt, würde ich gern mit etwas Erfreulicherem beginnen. Gerade heute ist, wie ihr seht, der reiselustigste unserer unsteten Brüder zu uns zurückgekehrt – Josef von Arimathäa.»
Die Männer am Tisch sahen zu Josef hin. Viele nickten ihm zu.
Gamaliel fuhr fort: «Heute vor einem Jahr erklärte sich Josef von Arimathäa bereit, im Auftrag des Tetrarchen von Galiläa, Herodes Antipas, und meiner Person, geheime Verhandlungen in Rom wegen der Nachkommen Israels zu führen. Diese Mission nach Rom war gut getarnt, da er wie üblich mit seiner Handelsflotte nach Britannien, Hispania und Griechenland reisen wollte. Doch als die Ausweisung der Juden aus Rom bekannt wurde, baten wir Josef, auf kürzestem Weg nach Capri zu fahren…»
Kaum hatte Gamaliel Capri erwähnt, als ein Raunen durch die Reihen der Ratsmitglieder ging.
«Ich will euch nicht auf die Folter spannen. Die meisten von euch vermuten schon, was ich zu sagen habe. Mit Hilfe des kaiserlichen Neffen Claudius, der die früheren Herodeskönige kennt, erreichte Josef von Arimathäa ein Treffen mit dem Kaiser Tiberius in dessen Palast auf Capri. Bei dieser Begegnung konnte Josef von Arimathäa den Kaiser überzeugen, daß es ein weiser Entschluß wäre, den Juden die Rückkehr nach Rom zu erlauben.»
Nun applaudierten die Ratsmitglieder. Sie klopft en laut auf den Tisch, und wer nahe genug bei Josef saß, drückte ihm kräftig den Arm, so auch Nikodemus. Alle im Saal waren schon vor Monaten davon in Kenntnis gesetzt worden, durch ein römisches Edikt, aber Josefs persönlicher Einsatz war bis jetzt, da er sicher von seiner Reise heimgekehrt war, ein streng gehütetes Geheimnis geblieben.
«Nun habe ich eine etwas ungewöhnliche Bitte an euch», fuhr Gamaliel fort, «aber nachdem uns Josef von Arimathäa einen so großen Dienst erwiesen hat und eingedenk seiner besonderen Beziehung zu Jesua ben Josef von Nazareth, möchte ich ihn fragen, ob er einen besonderen Wunsch hat hinsichtlich unseres weiteren Vorgehens in dieser Sitzung. Josef ist der einzige unter uns, der vielleicht nicht alle Umstände kennt, die zu der Krise geführt haben.»
Der Hohepriester Kajaphas runzelte die Stirn über diesen Antrag, aber die anderen nickten zustimmend.
«Ich danke euch von ganzem Herzen», begann Josef. «Ich bin erst heute morgen angekommen, und während wir hier sitzen, wird meine Flotte noch nicht einmal vollständig in den Hafen eingelaufen sein. Ich hatte auch noch keine Zeit zu schlafen, zu baden oder mich umzukleiden. Daran seht ihr, wie sehr ich mich beeilt habe, zu erfahren, worum es geht. Und bis jetzt weiß ich nur soviel, daß Jesua, der Meister – der für mich, wie einige von euch wissen, meine ganze Familie darstellt –, in einer sehr ernsten und mißlichen Lage ist, die uns alle betrifft.»
«Dann müssen wir dir die Geschichte erzählen», sagte Gamaliel, «und zwar der Reihe nach, denn die meisten von uns waren irgendwie daran beteiligt. Ich werde den Anfang machen.»
Die Geschichte des Meisters
Im vergangenen Herbst kam er allein zum Laubhüttenfest nach Jerusalem. Alle, die ihn kannten, waren darüber bestürzt. Die Jünger hatten ihn dreimal gefragt, ob sie mitkommen dürften, wenn er von Galiläa hinunterginge, um das Wort Gottes zu verbreiten, wie er das bei allen religiösen Anlässen tat, und Heilungen durchzuführen für die festlich gestimmte Menge. Er lehnte die Bitte dreimal ab und schickte sie fort. Aber dann ging er heimlich allein und erschien völlig unerwartet in den äußeren Tempelhöfen. Er wirkte fremd und geheimnisvoll, gar nicht er selbst, eher so, als folgte er einem inneren Plan.
Das Laubhüttenfest während der herbstlichen Tagundnachtgleiche erinnert an jene erste Stiftshütte aus Akazienzweigen, die Gott uns beim Auszug aus Ägypten zu bauen befahl, und es erinnert auch an die schlichten Hütten oder Zelte, die wir während jener langen Wanderschaft in der Wildnis errichteten, um darin zu wohnen. Bei dem Fest im vergangenen Herbst standen wie
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