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NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

Titel: NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Meckel
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Platz eines Menschen in der Welt markierte. Wir brauchten materielle Manifestationen der Erinnerung, Fotos, Briefe, Gegenstände, die wir mit einer Person verbinden konnten. Eines Menschen Meme. So schön und reizvoll der Gedanke der Unsterblichkeit unserer Seelen ist, so sehr hat er uns immer einer Prüfung unterworfen. Wir mussten glauben – im religiösen oder auch im weltlichen Sinne – an die Endlosigkeit des Seins, an die Unauslöschbarkeit des Individuellen. Aber in einer Welt der Daten ist Glauben schwer. In einer deterministisch-analytischen Welt wird er unmöglich.
    Dann kam das Netz und hat die Seele fassbar gemacht. Nicht im materiellen Sinne. Durch die Speicherung des bislang Endlichen. Wir haben begonnen, unser Leben zu dokumentieren in Fotos und Videos, Facebook-Meldungenund Tweets, durch Einträge in unsere virtuellen Tagebücher und das Markieren momentaner emotionaler Zustände. Die Beschreibung des flüchtigen Moments wurde dauerhaft. Gespeichert auf alle Ewigkeit. Oder zumindest länger, als wir uns das je hatten vorstellen konnten. Mein «master repository». 4 Wenn der Körper starb, mussten wir nur unser Onlineprofil auf «memorial mode» umstellen, und alles blieb erhalten. Als Panoptikum eines Lebens.
    Durch den Körper fließt kein Blut mehr. Durch die Nervenstränge wird keine elektrische Energie mehr geleitet. Kein Impuls wechselt mehr über die Synapsen von einer Nervenzelle zur anderen. Im Körper ist die Stille eingekehrt. Doch um ihn herum bleibt es unendlich laut. Der Informationsaustausch auf den Datenplattformen dieses individuellen Lebens wird fortgesetzt. Die Kommunikation auch. Die anderen sprechen weiter, nicht mit mir, aber über mich. Sie interagieren mit meinem Profil, meinen Fotos, Postings und sonstigen Daten. Ich bin dabei, auch wenn ich weg bin.
    Ich bin kein Avatar. Kein digitales Überbleibsel des Menschen. Aber es gibt sie auch von mir, diese seltsamen virtuellen Ichs, die eine Zeitlang so beliebt waren. Als wir tatsächlich noch an unsere Körperlichkeit gebunden waren und es keine Möglichkeit der analog-digitalen Transzendenz gab. Wir haben ganze virtuelle Welten mit Avataren bevölkert, die immer so lange in den Datenströmen der «World of Warcraft» oder unseres «Second Life» unterwegs waren, wie die Faszination der eigenen Externalisierung gegeben war. Ich lagere mich aus in Räume und Zeiten, die mit meinem analogen Leben nichts zu tun haben. Seltsam ist nur, dass die meisten Menschen damals Avatare kreiert haben, die ihnen als realen Menschen doch so ähnlich waren. Etwasschlanker, etwas schöner, etwas größer, etwas erfolgreicher als im analogen Leben. Aber dennoch ein Abbild des eigenen Ich.
    Ich weiß nicht, wo ich diese Figürchen des besseren Selbstentwurfs überall hinterlassen habe. Einen habe ich in einem Darkroom des «Second Life» zurückgelassen, mit gesenktem Kopf zur Wand gedreht, die Arme schlaff am Körper herabhängend. So habe ich ihn in Erinnerung behalten, nachdem ich festgestellt hatte, dass es menschliche Erfahrungen gab, die damals ohne Körper langweilig waren und einen schnell lustlos werden ließen. Wenn ich daran denke, hätte ich Freude daran, diesem Alter Ego nochmals einen kurzen Besuch abzustatten, nachzusehen, ob er immer noch dort mit hängenden Schultern und gesenktem Blick in der Ecke steht. Und dann würde ich zu ihm sagen: Du Armer, erst jetzt weiß ich, was ich dir angetan habe. Du stehst hier, verdammt in eine Ecke dieses hässlichen Darkrooms auf alle Ewigkeit. Und es ist meine Schuld. Ich habe dich hier stehenlassen und nie darüber nachgedacht, was das bedeutet. Ich wusste es einfach nicht besser. Sonst hätte ich dich erlöst, dich einfach gelöscht, nachdem ich wusste, ich würde nicht mehr zurückkehren und dich nicht mehr brauchen. Ich weiß jetzt, was es bedeutet, der digitalen Ewigkeit überantwortet zu sein.
    Vielleicht ist das ein alberner Gedanke. Selbstbezüglich auch. Ich vermute, dem Avatar ergehe es ähnlich wie mir, nur weil ich ihn erschaffen und dann zurückgelassen habe. Vielleicht merkt er gar nichts. Vielleicht spüre nur ich die ewige Einsamkeit in diesem digitalen Raum und glaube, auch er müsse sie spüren, weil ich ihn erschaffen habe. Vielleicht möchte ich mich erlösen, und all das hat mit dem Avatar gar nichts zu tun. Was auch immer zutrifft, ich habe keineChance, nach ihm zu sehen. Es gibt keinen Zugang mehr zum «Second Life», schon lange nicht mehr. Es gibt kein «Second Life»

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