NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)
Generation.
Aber wir waren hartnäckig. Wir haben lange widerstanden. Wir wollten nicht vom Glauben lassen. Auch weil er die Annahme einschloss, die Ambivalenz gehöre zum Menschen wie sein Fleisch und sein Blut. Das ist eine lustige Erinnerung. Ich weiß, dass ich einmal, lange muss das her sein, die Begriffe «Ambivalenz» und «Computer» in eine Suchmaschine eingegeben habe. Null einschlägige Treffer. Ambivalenz und Unentschiedenheit, das waren unsere besonderen Kennzeichen. Wir wollten sie gerne behalten. Aber als der Glaube schwand, wuchs die Eindeutigkeit. Und sie ließ keinen Platz mehr für eine menschliche Seele, die keine klare Zuordnung kannte. Wir waren auch hartnäckig im Versuch zu retten, was zu retten war. Wir haben ganze Wissenschaftlerkolonien und Heere von Experten darauf angesetzt, ein technologisches Substitut für den religiösen Raum ‹Himmel› zu konstruieren. 3 Ein virtuelles Paradies sozusagen.
Ich glaube, ich lache jetzt gerade. Jedenfalls ist alles aktiviert, was darauf hindeutet. Ich denke an eine weitere Eigenschaft, die den Menschen früher ausgezeichnet hat. Naivität. Wir waren naiv in vielen Dingen, die wir taten, und in vielem, was wir glaubten. Ich lache aber auch darüber, dass wir noch immer versucht haben, einen Unterschied zu kreieren, als alle Unterschiede bereits aufgehoben waren. Dass wir unseren Glaubensraum, der doch immer ein virtuelles Reich im Gegensatz zu unserer realen Welt war, nun als reales Reich in eine virtuelle Welt hinüberretten wollten. Wir Menschen waren seltsame Wesen.
Den Raum der Uneindeutigkeit zu retten. Ist das nicht ein schöner Gedanke? Anrührend auch. Er klingt so anmaßendund ist doch nur der weitreichenden Unsicherheit und Verlorenheit des Menschen geschuldet. Kann es sein, dass wir so vergänglich sind? Nein, das kann und darf nicht sein. Weil wir unsere Augen vor der Sterblichkeit des menschlichen Körpers nicht verschließen konnten, haben wir unseren inneren Blick auf die Unsterblichkeit der menschlichen Seele gerichtet. Aber nie gab es dafür einen empirischen Beweis. Wir konnten annehmen, dass die Seele ewig ist. Aber wir konnten es nicht wissen.
Es hat immer Menschen gegeben, die sich dieser Vorstellung nicht öffnen wollten. Die einfach damit leben konnten, dass irgendwann alles vorbei ist. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Die sich sogar den kulturellen Formen materieller Verewigung verweigert haben, wie wir sie in Friedhöfen, Grabstätten, Inschriften und Todesanzeigen entworfen haben. Ich erinnere mich, dass es irgendwann in unserer analogen Vergangenheit eine Bewegung des anonymen Sterbens gegeben hat, deren Anhänger auf einen Grabplatz und auf jedwede Form der Begleitung auf ihrem letzten Weg verzichten wollten. Das waren die frühen Realisten der Dematerialisierung. Und vielleicht waren sie sehr kluge Menschen.
Irgendwann in früherer Zeit habe ich einmal bei einem meiner Spaziergänge durch einen großen Park im neuen York einen alten Mann beobachtet, der ein paar Blumen an einem Baum in der Nähe eines kleinen Sees abgelegt hatte. Ich habe ihm eine Weile zugeschaut und mich gefragt, was er da wohl macht. Und dann ist mir eine Ahnung gekommen. Ich bin auf den Mann zugegangen und habe ihn ins Gesicht gefragt: «Für wen sind die Blumen? Für Ihre Frau?» Er ist sehr erschrocken und vollkommen in sich zusammengefallen, als hätte ich ihn bei einer Straftat erwischt. Und das war ja auch so. Er hat mir dann nämlich seine Geschichte erzählt vonseiner todkranken Frau, die nicht begraben werden wollte, damit er sich nicht um ihre Grabstätte kümmern müsse. Also hat er ihr versprechen müssen, dass sie anonym bestattet wird. Aber als sie dann gestorben war, hat er angefangen zu zweifeln und zu hadern. Einerseits hatte er ihr das Versprechen gegeben. Andererseits wollte er nicht loslassen, nicht auf den Ort verzichten, an dem er sie auch künftig finden würde. Und was hat er gemacht? Er hat seine Frau mitten in der Nacht unter dem Baum an dem kleinen Teich begraben. Er, und nur er, wusste von nun an, wo das ist. Und gelegentlich brachte er Blumen und legte sich heimlich dort unter den Baum, um einen Moment bei ihr zu sein. Dabei hatte ich ihn erwischt. Gut, dass ich es war und nicht die Parkpolizei. Was für seltsame Erinnerungen das sind, die ich in meinen Speichern abgelegt finde.
Wir scheinen immer die materielle Verbindung zum Immateriellen gesucht zu haben. Wir brauchten den Ort, an den wir zurückkehren konnten, der den
Weitere Kostenlose Bücher