NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)
Chance zu nutzen. Wir waren unzulänglich. Als Spezies nicht geeignet für eine Welt der deterministischen Allgegenwärtigkeit.
Zu dieser Zeit herrschte noch Systeminkongruenz, und das war das Problem. Unsere Daten, Informationen und Erinnerungen waren durch Computer gespeichert. Aber zwischen dem Menschen und dem Computer blieb ein Übersetzungsvorgang notwendig. Der Mensch war nämlich noch auf seinen Körper angewiesen. Er musste sich bewusst für die Suche nach etwas entscheiden und sie auch ebenso bewusst mit seinen Körperfunktionen in Angriff nehmen, und sei es nur dadurch, dass er einen Befehl über die Tastatur eintippte oder etwas mit der Maus anklickte. Der Computer hingegen hielt die Daten nur vor, bot sie uns also nicht aktiv an und half auch nicht bei der Auswahl. Also fanden wir Menschen nur, was wir finden wollten, nicht aber das, was wir schon lange nicht mehr gesucht hatten.
Das ist insofern seltsam, als der Mensch meiner fernen Erinnerung nach immer eine Spezies gewesen ist, die den plötzlichen Eintritt eines Zustands liebte, den wir damals Überraschung nannten. Wenn der Mensch etwas präsentiert bekam, was er nicht erwartet hatte, war er in der Regel freudig überrascht, manchmal sogar glücklich. Davon haben die Medien gelebt, die es damals gegeben hat, auf Papier gedruckte Zeitungen und Bücher, das Fernsehen. Plötzlich fand man darin etwas, das man nicht gesucht hatte. Natürlich ging das auch über die Computer. Wir selbst haben begonnen,algorithmische Vorschlags-und Empfehlungssysteme zu programmieren, die uns auf das aufmerksam machen sollten, was uns interessieren, vielleicht sogar überraschen könnte. Aber wir haben uns dabei überschätzt. Wir haben das programmiert, was wir uns als Überraschung vorstellen konnten, um es uns regelmäßig offerieren zu lassen. Damit wurde aus Überraschung Berechenbarkeit.
Ich glaube mich zu erinnern, dass ich selbst einmal ein Me-Pad besaß, das mir ständig auf dem Wege einer randomisierten Auswahl vorschlug, doch mal wieder dieses Foto anzusehen oder jenen Film oder auch in ein bestimmtes Dokument hineinzuschauen. Das war ein interessantes Experiment, aber es hat hinsichtlich der eigenen gespeicherten Daten nicht recht funktioniert. Letztlich kannten wir die ja. Wir hatten zwar vergessen, nach ihnen zu suchen, aber wenn wir sie dann plötzlich wieder präsentiert bekamen, erinnerten wir uns zumeist doch daran, was sie enthielten und dass wir das eben schon lange kannten. Damit war der Neuigkeitswert dahin und die Überraschung auch.
Die weiterentwickelten, komplexer programmierten algorithmischen Empfehlungssysteme waren da erfolgreicher. Mit ihnen haben wir uns letztlich selbst ausgetrickst. Wir hätten uns selbst gegenüber skeptischer sein müssen, als wir begonnen haben, die Überraschung und das Unvorhersehbare Zug um Zug aus unserer Welt herauszurechnen. Ich erinnere mich, dass ich einmal aufgemerkt habe. Das war, als die New York Times zum ersten Mal mit einer «kriegsfreien Ausgabe» erschien. 10 In der Zeitung, die man als Sonderausgabe abonnieren konnte, fanden sich Meldungen und Berichte zu allen möglichen Themen, nur nicht zu jenen, die irgendwie mit Krieg zu tun hatten. Erst war es nur der Krieg, der von den Redakteuren der «kriegsfreien Ausgabe» großzügigausgelegt wurde, sodass die New York Times in kurzer Zeit zu einer Zeitung des fröhlich-naiven Weltverständnisses wurde. Dann kamen andere Ausschlussoptionen hinzu, die «sexfreie Ausgabe», die «armutsfreie Ausgabe», die «parteifreie Ausgabe», die «tierfreie Ausgabe». Irgendwann gab es sogar eine «frauen-oder männerfreie Ausgabe» im Angebot. Mich würde interessieren, ob es heute eine «menschenfreie Ausgabe» gäbe, allein von Algorithmen erstellt. Wenn es denn noch Zeitungen gäbe.
Wir konnten damals wählen, über eine «opt out»-Option alles ausschließen, was wir in unserem medialen Weltbild nicht mehr gebrauchen konnten und wollten. Wir konnten alles kategorisch aussortieren, was uns hätte überraschen oder gar ärgern und aufregen können. Die neue Übersichtlichkeit der Vorauswahl hat manche Zeitungsausgabe sehr dünn werden lassen. So wollten wir es. Niemand hat das für uns entschieden. Wir haben es selbst so entschieden.
Ich denke, so muss es gewesen sein, denn damals war noch keine Rede vom dynamischen, sich selbst programmierenden Computer. Wir waren das. Und damals dachten wir wohl, wir würden einfache Korrelationen in Programmierleistung
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