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NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

Titel: NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Meckel
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Programmierfehler. Ich denke, es ist eher eine Systemproblematik. Das Dilemma der unbegrenzten Speicherkapazität. Nicht sehr bedeutsam. Es verändert nichts mehr. Ein kleines Gedankenexperiment, das mir Freude bereitet.
    Martin Lampe war der langjährige Diener Immanuel Kants. Im Januar 1802 der Körperzeit hat Kant ihn entlassen, weil Lampe zu trinken begonnen hatte. Die beiden hatten – im Rahmen der damaligen hierarchischen Ordnung – ein recht enges Verhältnis. Deshalb ist es wenig erstaunlich, dass Kant sich sehr an Lampe gewöhnt hatte. Er hatte sich sogar so an ihn gewöhnt, dass er seinen neuen Diener immer wieder «Lampe» nannte, obwohl der doch Johann Kaufmannhieß. Also schrieb Kant eines Tages einen Zettel, auf dem stand: «Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden.» 8
    Kann das einem klugen Denker geschehen? Dass er notiert, was vergessen werden soll, um damit endgültig sicherzustellen, dass es nie vergessen wird? Offenkundig. Vielleicht war Kant einfach ein melancholischer Mensch, der nicht vergessen wollte, nicht einmal nach größter Enttäuschung. Selbst in einigen Briefwechseln nach Lampes Entlassung spielte der Diener immer wieder eine Rolle. «Der Lampe muss doch unzubessernd gewesen sein, da alle Nachsicht und alle Ermahnung nichts gefruchtet haben», schrieb Ionas Ludwig von Heß an Kant, als er von der Entlassung des Dieners erfahren hatte. 9
    So ist das vielleicht heute mit uns Menschen als Spezies. Alle Nachsicht und alle Ermahnung haben nichts gefruchtet. Wir beschäftigen uns immer noch mit dem Vergessen, obwohl alles längst vergangen ist, was das Vergessen einst ausmachte. Vielleicht haben wir auch irgendwann einen großen Zettel geschrieben, auf dem stand: «Vergessen muss vergessen werden.» Um uns dann umso vehementer daran zu erinnern, dass eben das ja nicht mehr geht und der Satz daher ein Widerspruch in sich ist.
    Wenn ich auch bei so vielen Dingen, die sich verändert haben, kaum mehr unterscheiden kann, wie es früher war und was jetzt ist, so ist es hier doch anders, systemisch bedingt anders. Auch ich bin «unzubessernd», denn ich erinnere mich an das Vergessen. Das war, streng genommen, unter Bedingungen der Körperzeit kaum möglich gewesen. Wenn wir etwas vergessen hatten, war es weg. Und dann konnte man sich ja eben
nicht
mehr daran erinnern. Da ich nun, systembedingt, nicht mehr vergessen kann, kann ichauch das Vergessen nicht vergessen. Aber es ist noch etwas anderes, Grundsätzlicheres, Unbestimmtes, das meine neuronal vernetzten Prozesse durchläuft, wenn ich mich an das Vergessen erinnere. Es ist ein bestimmter Modus, vielleicht gar etwas, das wir früher als ‹Gefühl› bezeichnet haben. Es versetzt mich in einen positiven Zustand. Vergessen muss etwas Schönes gewesen sein. Etwas Leichtes oder eher Erleichterndes.
    Wann hat es angefangen, dass wir nichts mehr vergessen konnten? Es hat sicher mit der permanenten Erweiterung unserer digitalen Speicherkapazitäten zu tun. Ich habe irgendwo abgelegt, dass die Menschen früher einmal mit Computern gearbeitet haben, die über eine Festplatte mit 120 Megabyte verfügten. Als ich noch in der Körperzeit lebte, hätte ich darauf gerade mal zwei Dutzend hochwertiger digitaler Fotos speichern können. Später haben wir unsere Speicherkapazitäten auf Gigabyte und dann auf Terabyte erweitert. Und dann hat es irgendwann keine Größenbezeichnungen mehr gegeben. Sie waren einfach nicht mehr nötig. Alles ließ sich speichern, was und wo immer man wollte. Die technische Entwicklung hatte das Maßhalten überholt. Eines Maßstabes bedarf es nur dort, wo es um einen Teil des Ganzen geht. Wo es um das Ganze geht, entfällt das Maß des Teils.
    Ich fand das großartig. Die unbegrenzten Möglichkeiten des Digitalen. Aber ich weiß auch, dass ich irgendwann begonnen habe, mich selbst und meinen Umgang mit dem Gespeicherten zu beobachten. Und dabei habe ich seltsame Unzulänglichkeiten festgestellt. Ich hatte Zehntausende von Fotos gespeichert, Tausende von Musikfiles gesammelt und Hunderttausende von Dokumenten abgelegt. Aber den größten Teil dieser vielen Datensätze, die ich bis dahin gesammelthatte, blieben ungenutzt. Ja, ich habe sie irgendwann vergessen. Manchmal bin ich dann wieder auf etwas gestoßen, wenn ich ziellos meine Festplatten durchforstet habe. Aber das meiste blieb eine unspezifische Masse aus 0 und 1. Da hatten wir die Möglichkeit, alles auf immer zu behalten, und waren doch nicht in der Lage, diese

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