NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)
mehr, nicht im Speziellen und nicht im Allgemeinen. Es gibt nur das eine Leben, in dem ich jetzt angekommen bin. Ohne Übergang von real zu virtuell. Es ist alles dasselbe. Vielleicht ist der Avatar also auch irgendwo hier bei mir. Vielleicht könnte ich ihm einmal sanft über den Kopf streicheln und ihm sagen, du bist nicht allein, ich bin auch hier, hier bei dir. Vielleicht würde es ihm etwas bedeuten? Ich weiß es nicht.
Hätte ich anders entscheiden können? Hätte ich die Chance gehabt, all dem hier frühzeitig ein Ende zu setzen? Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ich sterben darf? Nicht nur als menschlicher Körper, sondern mit allem, was zu mir gehört? Angeblich war das früher möglich. Ich erinnere mich daran, dass einmal digitale Testamentsvollstrecker zu Diensten waren, deren Angebot sich vor allem darauf richtete, das Löschen aller Daten und Überbleibsel im Digitalen zu organisieren – nach dem Motto «das können Sie nicht mehr selbst machen». 5
Inzwischen denke ich, es hätte nichts genutzt, wenn ich mich frühzeitig um mein digitales Sterben gekümmert hätte. Ich glaube, das hätte zu nichts geführt, denn der Trend lief eindeutig auf die digitale Ewigkeit zu. Wie sich einer Bewegung widersetzen, die Hunderte von Millionen Menschen und die Algorithmen auf ihrer Seite hat? Es gab immer mal wieder Vorfälle, die für Aufregung gesorgt haben. Zum Beispiel als Facebook zum ersten Mal selbsttätig und ohne Kontakt mit der Familie ein Kondolenzbuch für eine Verstorbene einrichtete. Da gab es noch heftige Proteste. All das ist längst vorbei. Wir haben uns dann schnell daran gewöhnt, dass es keine Möglichkeit für die Angehörigen gab, die digitale Hinterlassenschafteines Verstorbenen zu beenden und zu löschen. Und die meisten wollten das auch gar nicht. Sie wollten sich verewigen und trafen zu Zeiten ihres körperlichen Lebens bereits entsprechende Vorkehrungen. Irgendwann war auch das nicht mehr notwendig. Irgendwann waren wir im default mode der digitalen Ewigkeit. Irgendwann war uns in unserem Betriebssystem eingeschrieben worden, dass wir eine Sammlung von Daten sind. «Our essence lies not in our matter but in a pattern of data», lautete die Eingabe. 6 Es klang fast wie ein Gebot. Das nullte Gebot für jeden von uns, der wie alle «eins» waren.
Alles wurde für immer gespeichert. Alle Äußerungen, alle Texte, Bilder, Videos, eine Kopie unseres genetischen Codes, medizinische Daten, ein «mind file», 7 indem ein individuelles Profil aus allen diesen Informationen zusammengesetzt wurde. Ich weiß nicht, wie und wann das kam. Es war einfach irgendwann so. Mein Geist, meine Seele, mein Ich, alles geht über, ich kann es fühlen. So soll es geschehen.
[C:\Eter nalize:]
Wenn ich mit einem anderen Menschen Kontakt aufnahm, habe ich mich über eine lange Zeit immer wieder gefragt, mit welcher Version ich gerade kommuniziere, ob sie kürzlich upgedated wurde und ich sicher sein kann, dass keine historischen Fehler passieren. Das Problem ist natürlich behoben, seit der Unterschied zwischen analog und digital aufgehoben ist, seit es keiner Updates mehr bedarf, um sich im aktuellen Geisteszustand zu befinden. Es geschieht alles wie von selbst. Wir müssen uns nicht mehr kümmern. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Silizium zu Silizium. Datum zu Datum zu Datum. Und so fort.
In meinem «master repository» habe ich kürzlich den digitalen Ort wiedergefunden, an dem ich einst Gedanken angelegthatte, die mir beim Lesen kamen, Zitate und anderes. Darunter auch eines von Emily Dickinson, deren Geburtshaus in Amhearst ich offenbar noch zu meinen Körperzeiten besucht hatte. Ich mochte den Satz damals sehr. Er lautet: «Abschied ist alles, was wir von der Hölle wissen müssen.»
Das stimmt nicht. Die Hölle beginnt erst dort, wo es keinen Abschied mehr gibt.
[V ERGESSEN ...- . .-. --. . … … . -.] Ich muss ständig an Lampe denken. Erstaunlich, dass das gelingt. Natürlich, warum auch nicht? Nichts leichter als sich zu erinnern. Aber ich habe zwischendurch immer wieder den Gedanken gehabt, ich möge ihn doch vergessen, diesen Lampe. Weil er für etwas steht, das vorbei ist. Lampe muss vergessen werden. Aber wenn das Vergessen doch technisch überholt ist, geht das ja gar nicht. Das wiederum bedeutet, ich werde ständig an etwas erinnert, das mir die einstige Möglichkeit von etwas inzwischen Vergangenem, Unmöglichem vergegenwärtigt. Vielleicht ist da irgendwo ein kleiner
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