Nextopia
worden waren, schrieb Lost ein wirklich neues Kapitel der Fernsehgeschichte. Wenn die Leute sich fragen, was mit ihren gestrandeten Freunden auf der nicht ganz so unbewohnten Insel passiert – kommen Jack und Kate jemals zusammen? –, dann wollen sie nicht bis zum Ende der Staffel warten, sondern es sofort wissen.
Warum sollte ein Fernsehsender Serienstaffeln auf DVD herausbringen, ehe alle Folgen ausgestrahlt sind? Wenn man eine internationale Perspektive einnimmt (was zweifellos ein Großteil der Mitglieder der Erwartungsgesellschaft tut), ist die Antwort ziemlich offensichtlich. In einer Welt der beliebigen Verfügbarkeit kann jeder jederzeit und überall die neuste Folge von Lost sehen. Sobald die Folge irgendwo ausgestrahlt wurde, findet sie ihren Weg ins Internet. Warum sollten ein Inder, ein Deutscher oder ein Eskimo vom Zeitpunkt der Erstausstrahlung in Amerika an warten, bis die Serie in ihrem Land gezeigt wird, wenn sie sie sofort sehen können? Aus diesem Grund hat ABC auch dafür gesorgt, dass das Finale wenn schon nicht weltweit, so doch in zahlreichen Ländern der Erde am selben Sonntag ausgestrahlt wurde. In dieser Hinsicht wurde das Finale wie ein Sportereignis betrachtet, wie ein einmaliges Live-Event. Trotzdem führte die letzte Folge die Liste der innerhalb eines Tages am häufigsten heruntergeladenen TV-Serienepisoden an. Es gab fast 1 Million Downloads in 24 Stunden, davon 20 Prozent in Australien, einem der wenigen Länder, in denen das Finale nicht am 23. Mai ausgestrahlt wurde. Zeit ist Geld, viel Geld, das wir nicht vergeuden wollen.
Was auch erklärt, warum Netflix begonnen hat, seine eigenen TV-Serien zu produzieren, deren Episoden vollständig für den Zuschauer bereit stehen – und zwar schon ab der ersten Folge, und ohne den Umweg über eine Ausstrahlung oder den DVD-Versand zu machen.
Lange Finger tun weh!
DAS PARADOX DER ERWARTUNGSGESELLSCHAFT IST: Je weniger lange wir warten müssen, desto schmerzlicher ist das Warten. Daran sind unsere langen Finger schuld. Wenn irgendetwas innerhalb unserer Reichweite ist, wenn wir nur etwas berühren müssen, um es zu bekommen, quälen uns diejenigen Dinge, die wirnicht erreichen können. Das ist, als läge ein Marshmallow vor uns auf dem Tisch, aber wir dürften ihn nicht essen. In diesem Augenblick, wo uns der zarte Duft des Marshmallows in die Nase steigt, wo wir den feinen Puder sehen, der ihn umhüllt, und seine zart schattierte, poröse Oberfläche, können wir uns nicht vorstellen, dass es auf der ganzen Welt etwas Köstlicheres gibt.
Bei einem klassischen Experiment zur Willenskraft wurden Kinder allein in einen Raum gesetzt. Vor ihnen auf dem Tisch stand eine Glocke. Man sagte ihnen, sie könnten diese Glocke läuten, um jemanden zu holen, der ihre Wartezeit beenden und ihnen erlauben würde, den Raum zu verlassen. Dann würden sie als Dank für ihre Teilnahme einen Marshmallow bekommen. Läuteten sie die Glocke jedoch nicht und hielten ein bisschen länger aus, bis jemand anderes ihre Wartezeit beendete, würden sie zwei Marshmallows bekommen. Die meisten Kinder warteten ab und erhielten zwei Marshmallows. Als Nächstes wurde das Experiment mit einer kleinen Änderung wiederholt. Neben der Glocke auf dem Tisch vor den Kindern lag nun ein Marshmallow. Die meisten Kinder läuteten die Glocke.
All die Dinge und Möglichkeiten auf der Welt sehen und fast berühren zu können, macht uns ungeduldig . Warum können wir es nicht haben, wenn es doch da ist? Im Internet ist alles verfügbar und sichtbar, man kann sogar online ein Auto Probe fahren. Und man kann es sich jederzeit vor die Haustür liefern lassen. In der Welt der beliebigen Verfügbarkeit müssen wir auf nichts mehr warten. Globaler Zugriff, 24-Stunden-Lieferung und die rasante Geschwindigkeit, mit der ständig neue Produkte den Markt überschwemmen, haben unsere Wartezeiten innerhalb weniger Jahre radikal verkürzt. In der Erwartungsgesellschaft weiß ein spanisches Mädchen, dass sie nicht sechs Monate warten muss, bis sie den neuen Shrek 5 nach seiner US-Premiere in Barcelona sehen kann, was noch der Fall war, als ihr Bruder, jetzt im Teenageralter, so jung war wie sie. Sie weiß, dass sie den Film innerhalb weniger Tage sehen kann, und deshalb tut sie in den folgenden Nächten kaum ein Auge zu.
Sofort ist nicht schnell genug!
Bei einem Experiment wurde Zehntklässlern gesagt, sie würden einen Geschenkgutschein für eine CD ihrer Wahl im nächstgelegenen Plattenladen
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