Nextopia
signalisierten, dass die zukünftigen Folgen die Zuschauer für ihre Investition von Zeit und Interesse belohnen würden, und was am bemerkenswertesten ist: Sie ersetzten die für die Serie typischen Rückblenden durch Vorausschauen. Das beweist, dass sie ihre Lektion aus ihrem vorhergehenden historischen Unterfangen in diesem Genre, nämlich Twin Peaks, gelernt hatten.
Die Geschichte von Twin Peaks ist weit schneller erzählt als die von Lost: Die Serie begann am 8. April 1990 und endete am 10. Juni 1991. Man sollte meinen, dass Twin Peaks länger als nur ein Jahr überdauern sollte, denn die Serie wurde von der amerikanischen Zeitschrift TV Guide unter die »Top 25 Kult-Klassiker« gewählt und stand sowohl bei UK Channel 4 als auch beim Time Magazine auf der Liste der besten Fernsehsendungen aller Zeiten.
Die Erklärung lässt sich ganz einfach darstellen (siehe folgendes Diagramm). Der Pilotfilm wurde von 33 Prozent der amerikanischen Fernsehzuschauer gesehen, eine Zahl, die im gegenwärtigen Zeitalter von 300 verfügbaren TV-Sendern geradezu surreal erscheint. Die Ankunft von Special Agent Dale Cooper in dem kleinen Gebirgsstädtchen Twin Peaks, der den Mord an der Highschool-Schönheit Laura Palmer aufzuklären hat, erregte die Aufmerksamkeit nahezu der gesamten Nation und bald darauf auch der ganzen Welt. Die Suche nach dem Mörder von Laura Palmer erzeugte eine regelrechte »Peaksmania«. Wer den Pilotfilm verpasst hatte, bekam bei der nächsten ausgestrahlten Folge noch den Anschluss. Der Nettokapitalwert der Serie war extrem hoch, denn jeder wollte herausfinden, was hinter dem Mord an dem beliebten Mädchen in diesem seltsamen Städtchen steckte.
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Obwohl die Serie von Anfang an bizarr gewesen war, nahmen die sonderbaren Querverweise, Wendungen und Verwicklungen mit jeder neuen Ausstrahlung zu, wodurch es immer schwieriger wurde, der Geschichte zu folgen, und die Menschen immer weniger überzeugt waren, dass der Mord aufgeklärt werden würde. Im Ergebnis sanken der Nettokapitalwert und die Einschaltquoten. Dann, kurz nach Beginn der zweiten Staffel, war der Mord plötzlich aufgeklärt. Zurück blieben obskure und langgezogene Nebenhandlungen und ein Publikum, das in den noch kommenden Folgen nur wenig Nettokapitalwert erkennen konnte. Infolgedessen sanken die Zuschauerzahlen stark ab. Im Februar 1991 erklärte ABC, dass die Serie eine Pause einlegen würde, in der Hoffnung, das Interesse der Zuschauer wieder zu wecken. Doch der Sender lieferte keinerlei Hinweise darauf, dass die zukünftigen Folgen wieder zur Haupthandlung zurückkehren und die Geschichte voranbringen würden, deshalb konnte er den Nettokapitalwert der Serie nicht vermitteln, und ein paar Monate darauf wurde Twin Peaks offiziell abgesetzt.
Zeit ist Geld!
ES MAG WEIT HERGEHOLT ERSCHEINEN, wenn man die Zuschauerreaktionen auf Fernsehsendungen mit Kalkulationsmethoden aus der Finanzwelt und dem Nettokapitalwert erklären will. Aber in der Erwartungsgesellschaft besteht kein Unterschied zwischen dem Anschauen von Lost und dem Rechnungs- und Finanzwesen; es ist eine Frage der Preisermittlung von Zeit. Bei all den Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, spielt es keine Rolle, dass die Freizeit sich um bis zu 20 Prozent erhöht hat: Zeit ist unsere kostbarste Ressource. Und wir setzen ihren Wert immer höher an.
Tatsächlich ist jedoch eine Verzinsung des Zugewinns mit einer Rate von 10 Prozent, die im traditionellen Finanz- und Rechnungswesen angemessen wäre, für den durchschnittlichen Barry in der Erwartungsgesellschaft viel zu wenig. Er lebt in einer Welt der beliebigen Verfügbarkeit, wo er jederzeit alles haben kann, was er sich wünscht – warum sollte er warten müssen?
Die Fernsehserie Lost schrieb TV-Geschichte nicht nur wegen ihrer beispiellos hohen Produktionskosten oder wegen der überwältigenden anfänglichen Einschaltquoten. Sie war auch der Anfang einer neuen Form des Fernsehkonsums: von der Ausstrahlung zum Nowcast. Zwar waren auch zuvor schon zurückliegende Staffeln von Serien wie Die Simpsons auf DVD erschienen, aber nach der Erstausstrahlung von Lost explodierte der Markt geradezu. Seither werden fast alle Serien auf DVD herausgebracht, für all jene, die nicht eine Woche zwischen der Ausstrahlung der einzelnen Folgen warten wollen, sondern die Episoden alle hintereinander am Stück sofort sehen wollen. Mit der Veröffentlichung der DVDs, noch ehe die Folgen überhaupt ausgestrahlt
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