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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Bisher.
    »Könnte mir jemand die Landschaft beschreiben?« bat er ins Leere und hoffte, irgendwer würde ihm Antwort geben.
    Einen Augenblick lang war es, als hätte man seinen Wunsch überhört; dann aber meldete sich neben ihm eine Frauenstimme zu Wort: »Die Hänge sind dicht bewaldet, die Bäume reichen bis ans Ufer. Das Dorf liegt auf einer Landzunge. Man kann es über eine Sandbank erreichen oder auch über eine hölzerne Brücke.«
    »Es ist rundum vom Fluß umgeben?« Hagen gab sich Mühe, seine Unruhe im Zaum zu halten.
    »Nahezu, ja.«
    »Runold!« rief Hagen aus. »Ich muß mit dir sprechen!«
    Schnelle Hufschläge näherten sich von der Seite. »Ja, Herr?«
    Die Schwärze vor seinen Augen schien von allen Seiten auf Hagen einzudrängen. Einen Herzschlag lang glaubte er, etwas darin zu erkennen, nicht zu sehen, sondern zu spüren. Wieder hatte er das Gefühl, als käme langsam etwas aus der Finsternis auf ihn zu. Es brachte Kälte mit sich.
    »Herr?« fragte Runold noch einmal, eine Spur ungeduldiger.
    Hagen riß sich zusammen. »Ich werde Euch hier verlassen… mein Freund«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu. Er hoffte, das würde Eindruck auf den gottesfürchtigen Gaukler machen.
    Der Anführer gab keine Antwort.
    »Runold?« fragte Hagen nach einer Weile. »Seid Ihr da?«
    »Ich bin da, Herr.«
    »Gut. Ich sagte –«
    »Daß Ihr uns verlassen wollt, Herr. Ich habe es gehört.«
    Ein weiterer Augenblick des Schweigens verging. Hagen wollte schon auffahren, als jemand unvermittelt Paladins Zügel aus seinen Fingern riß. Das Schlachtroß wurde zum Halten gebracht. Der ganze Gauklerzug blieb stehen.
    »Runold, was soll das?« Hagen bemühte sich, seine Panik nicht offen zu zeigen; statt dessen gab er seiner Stimme einen drohenden Unterton.
    »Es tut mir leid«, entgegnete Runold.
    Hagen entging nicht, daß der Gaukler auf die Anrede »Herr« verzichtet hatte. Auf einmal mußte er den heftigen Drang niederkämpfen, wild mit den Armen um sich zu schlagen. Nie zuvor hatte er seine Blindheit entsetzlicher empfunden als in diesem Moment.
    »Ich muß um Verzeihung bitten«, sagte Runold, »aber ich kann nicht zulassen, daß Ihr uns verlaßt.« Eine unheilvolle Schärfe lag jetzt in seiner Stimme.
    »Laßt sofort mein Pferd los!« zischte Hagen. »Ihr wißt ja nicht, was Ihr tut.«
    Ganz in der Nähe hörte er wieder die Raben schreien. Federn streiften seinen Hals, doch das mußte der Kragen des Umhangs sein. Ein Raunen ging durch die Gauklertruppe. Paladin tänzelte leicht.
    »Ihr müßt einsehen«, sagte Runold, »daß ich Euren Wünschen nicht entsprechen kann. Ich muß Euch bitten, bei uns zu bleiben. Euer Talent ist zu beachtlich, um es ungenutzt zu lassen.«
    »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.« Hagen fragte sich, ob es ratsam sei, auf seinen Status als Gott hinzuweisen, doch etwas sagte ihm, daß es damit vorbei war.
    »Ob Ihr es wißt oder nicht ist unbedeutend«, erwiderte Runold gelassen. »Eure Macht über Raben ist ganz erstaunlich. Eure ganze Erscheinung ist verblüffend. Ihr seid wie geschaffen für meine Truppe.«
    Hagens Stimme war schneidend: »Welche Kunststücke führt Ihr vor, Runold? Es ist an der Zeit, mir die Wahrheit zu sagen.«
    »Die Wahrheit?« Runold lachte krächzend. »Die Wahrheit mag sein, daß Ihr ein Gott seid – oder auch nicht. Und die Wahrheit mag sein, daß mein ganzer Trupp aus Göttern besteht – oder eben nicht.«
    »Was meint Ihr damit?«
    Runold lachte noch immer, ein heiserer, böser Laut. »Es sind Götter, die ich den Menschen verkaufe. Ein ganzer Trupp voller Götter. An Eurer Seite reiten der mächtige Donar, die liebliche Frija, der jugendliche Balder und noch einige mehr. Und Ihr, blinder Mann, werdet fortan der Herr aller Götter sein. Ihr seid Wodan, mein Wodan!«
    »Ihr seid ja wahnsinnig!« Hagens Hand fuhr zum Sattel, dorthin, wo sein Schwert gehangen hatte. Es war nicht mehr da.
    »Ich gestattete mir, Eure Waffe zu entfernen«, gestand Runold. »Vorsichtshalber. Und was den Wahnsinn angeht, den Ihr mir vorwerft, so muß ich ihn weit von mir weisen. Ich bin, wenn Ihr so wollt, nichts weiter als ein Kaufmann. Ich verkaufe den Menschen auf ihren Märkten und Festwiesen das, wonach es ihnen verlangt. Und was begehren sie mehr, als eine Begegnung mit den Göttern selbst? Ihr wißt doch sicher, wie es ist: Die Menschen glauben, was sie glauben wollen. Und sie sind bereit, dafür zu bezahlen, oft sogar ein hübsches Sümmchen. Meine Leute und ich leben

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