Nibelungen 01 - Der Rabengott
»Wie lange tut ihr das schon, von Ort zu Ort ziehen und –«
»– den Leuten ihren eigenen Glauben verkaufen? Schon lange, sehr lange. Nichts ist so einträglich wie die Bereitwilligkeit der Leute, an etwas zu glauben.«
Runold ließ Hagen bei den anderen zurück und verschwand, um sich den herankommenden Dorfbewohnern zu widmen. Vorher flüsterte er Hagen noch zu: »Und sieh zu, daß du deine Raben dabei hast, wenn ich dich holen komme.«
Hagen hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er die Tiere herbeirufen sollte, und es war ihm auch gleichgültig. Längst hatte er sich vorgenommen, den ganzen Schwindel zunichte zu machen, sobald man ihn in das Zelt führte. Runold sollte wenig Freude an seiner neuesten Attraktion haben.
Die falschen Götter tuschelten miteinander, einige tauschten alberne Weisheiten aus, die sie vor den erwartungsvollen Dorfbewohnern zum besten geben wollten. Andere brachten ihre Hoffnung zum Ausdruck, man möge das Schauspiel schnell hinter sich bringen. Einer oder zwei schimpften auch auf Runolds Geiz und Gier, doch niemand pflichtete ihnen bei.
Hagen schwieg nachdenklich und bemühte sich, das allgegenwärtige Wispern des Flusses zu verdrängen. Er konnte die Nähe des Siebenschläfers fühlen, spürte seinen Haß und seinen Hunger. Hagen mochte Runolds Göttertruppe entkommen können, doch vor dem Rheingeist gab es keine Flucht.
Lärm riß ihn aus seinen Gedanken. Auf der anderen Seite des Zeltes wurden Stimmen laut. Vor allem eine, die einer jungen Frau, war deutlich aus den übrigen herauszuhören: »Betrüger!« schrie sie immer wieder. »Greift euch diesen elenden Scharlatan!« Hagen hoffte einen Augenblick lang, es sei Nimmermehr, doch die Stimme gehörte einer anderen.
Die Männer und Frauen, die mit Hagen hinter dem Zelt warteten, horchten auf. Die ersten wurden unruhig.
»Mögen uns die Götter beistehen!« Aus dem Mund der falschen Freija klang das einigermaßen bemerkenswert. Es schien keineswegs üblich zu sein, daß irgendwer den Betrug durchschaute.
Ein Rascheln ertönte, dann – schlagartig – das Fauchen emporschießender Flammen.
»Das Zelt brennt!« schrie jemand.
Hagen stolperte zurück, stieß gegen einige der anderen und stürzte. Niemand half ihm auf. Trampelnde Schritte rechts und links von ihm, aufgeregte Rufe. Innerhalb weniger Herzschläge stürmten die Männer und Frauen auseinander, einige fluchten und schrien, andere flohen stumm vor Entsetzen.
Immer mehr Dorfbewohner stimmten in die haßerfüllten Rufe der jungen Frau ein. Hagen war sich im klaren darüber, daß man ihn ebenso für einen Schwindler halten würde wie alle anderen. Ein aufgebrachter Pöbel, der nichts anderes im Sinn hatte, als ihn aufzuknüpfen, hatte ihm gerade noch gefehlt.
Verzweifelt versuchte er sich aufzurappeln. Er spürte ganz in der Nähe die Hitze des Feuers, hörte sein prasselndes Lodern und Fauchen. Die Angst, blind in die Flammen zu stolpern, überkam ihn mit aller Macht. Zum ersten Mal seit Jahren rief er um Hilfe.
Aus dem Abgrund seiner Blindheit schoß etwas empor, traf ihn wie ein Blitz aus Helligkeit. Das Licht verblaßte so schnell, wie es gekommen war, doch ein ganz schwacher Abglanz blieb zurück.
Hagen erkannte, daß ein winziger Teil seiner Sehkraft zurückgekehrt war. Es war das gleißende Licht des Feuers, das sich durch die Schwärze fraß und ihn schlagartig an das erinnerte, was Nimmermehr gesagt hatte: Sein rechtes Auge würde wieder sehen können, früher oder später.
Der schwache Lichthauch war das erste Anzeichen. Es drängte Hagen, vor dem brennenden Zelt sitzen zu bleiben, geradewegs in die Glut zu starren, seinem Auge beim Gesundwerden zuzuschauen. Er riß sich freudig den Helm vom Kopf, schleuderte ihn unbeholfen von sich. Vor Begeisterung vergaß er einen Moment lang sogar die Gefahr, in der er sich befand. Er heulte auf vor Freude.
»Seht ihr den da vorne?« brüllte eine Stimme über das Inferno aus Prasseln und Getrampel hinweg.
Sehen. Ja, dachte Hagen, ich werde wieder sehen können. Schön, daß ihr es auch könnt.
Ein irres Lachen stieg in ihm auf, quoll über seine Lippen wie Erbrochenes, gallig, bittersüß.
Wieder versuchte er aufzustehen, wieder streifte ihn etwas, warf ihn mit tückischer Wucht zu Boden.
Hagen hob den Kopf. Das Feuer! Verdammt, wo war das Feuer? Einen Moment lang sah er nichts als Schwärze, wirbelte panisch hin und her, auf der Suche nach der Helligkeit, nach dem Gleißen, nach dem Licht in der Tiefe
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