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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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geradewegs in die Gesichter fiel. Hagen erschrak, riß sich aber zusammen. »Schuld an allem ist nur der Mond«, sagte Otbert.
    »Wie meint Ihr das?«
    »In der Nacht, als Malena geboren wurde, schien der Vollmond vom Himmel. Und es war genauso, als Nane zur Welt kam. Beide sind Mondkinder, verstehst du?«
    Hagen verstand nicht, nickte aber trotzdem.
    »In manchen Nächten steigen Malena und Nane aus ihren Betten und wandeln schlafend durch die Burg. Es zieht sie zum Mond hinauf, sie geistern durch die Flure und Hallen, bis sie ein Fenster finden, durch das der Mondschein hereinfällt. Dort stehen sie dann die ganze Nacht, lächeln verträumt zum Mond empor und baden in seinem Licht. In einer Nacht wurde die Gräfin von den Wachen alarmiert: Malena tanzte nackt auf den Zinnen der Burg, schien niemanden wahrzunehmen, und als Laurine sie weckte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Sie wußte nicht einmal, wie sie hinauf auf die Mauern gekommen war.«
    Die Vorstellung jagte Hagen einen warmen Schauer über den Rücken. Er fragte sich, weshalb Graf Otbert ihm überhaupt davon erzählte. Wollte er ihn nur auf mögliche Seltsamkeiten vorbereiten, die er in der Burg erleben mochte?
    Otbert packte Hagen an beiden Schultern. »Bevor du ein wahrer Krieger wirst und mit Schwert und Axt auf die Schlachtfelder ziehst, sollst du wissen, daß kein Feind in Menschengestalt die Bösartigkeit des Mondes übertrifft. Er ist unser ewiger Widersacher, unser Gegner jetzt und immerdar.«
    Er ließ Hagen los, packte seinen Bogen und zog einen Pfeil aus dem Köcher. In einer einzigen, blitzschnellen Bewegung legte er den Pfeil auf die Sehne, spannte die Waffe und zielte geradewegs auf den Vollmond.
    »Was –«, begann Hagen verwirrt, doch Otbert unterbrach ihn:
    »Still«, zischte er. »Sieh einfach nur hin.«
    Der Graf ließ die Sehne los, der Pfeil surrte hinaus in die Nacht, genau auf die Mondscheibe zu. Hagen sah, wie er im Zentrum des weißen Lichtes verschwand.
    »Getroffen!« rief Otbert aus, doch in seiner Miene war keine Freude. »Ich treffe ihn immer, wieder und wieder. In jeder Vollmondnacht schieße ich ihm einen ganzen Köcher voller Pfeile in sein verfluchtes leuchtendes Herz, und doch ist es mir nie gelungen, ihn vom Himmel zu holen.«
    »Kann denn ein Pfeil bis zum Himmelszelt fliegen?« fragte Hagen verwundert.
    »Diese hier schon.« Otbert griff stolz zum Köcher und zog einen zweiten Pfeil hervor. »Ich habe sie von einem alten Waffenmacher anfertigen lassen. Es sind die besten und zielsichersten Pfeile, die die Welt je gesehen hat. Ich habe noch nie ein Ziel damit verfehlt.«
    »Dann sind es magische Pfeile?«
    »Mir jedenfalls scheinen sie so. Der Mann, der sie hergestellt hat, ist lange tot, und jene in meiner Waffenkammer sind die letzten aus seiner Werkstatt. Ich benutze sie nur noch, um den Mond damit zu verletzen, zu nichts anderem.«
    »Aber wenn sie nie fehlgehen, wäre es dann nicht gut, sie zur Jagd zu verwenden?«
    Otberts Züge verhärteten sich, als er abermals auf den Vollmond zielte. Einen Augenblick später schien auch der zweite Pfeil im Zentrum des Mondlichts zu verglühen.
    »Keine Jagd ist wichtiger als die auf den Mond«, sagte der Graf voller Überzeugung, während er schon zum dritten Pfeil griff. »Kein Krieg ist nötiger. Kein Kampf ehrenvoller. Töte den Mond, und du tötest den Feind jedes Menschen.«
    »Aber wenn ihn all Eure Pfeile nicht zerstören können, was bleibt da noch für eine Möglichkeit?«
    »Es gibt nur den nächsten Versuch. Und den übernächsten. Und den darauf. Immer und immer wieder.« Otbert lächelte kühn. »Irgendwann werde ich ihn besiegen.«
    Pfeil um Pfeil schoß er nun zum Mond empor, und vom Turm aus sah es tatsächlich aus, als treffe jeder genau ins Ziel.
    Hagen brauchte eine Weile, ehe er all seinen Mut gefaßt hatte und fragte: »Habt Ihr je versucht, einen Faden an einen Eurer Pfeile zu binden?«
    »Warum sollte ich das tun?«
    »Um gewiß zu sein, daß sie ihr Ziel wirklich erreichen.«
    Otbert dachte nach. »Welcher Faden könnte so lang sein?«
    Eine berechtigte Frage, gestand Hagen sich ein, und schalt sich selbst einen Esel für seinen dummen Vorschlag.
    Fortan schwieg er und sah zu, wie Otbert seinen Köcher leerte.
    Schließlich, zwischen zwei Schüssen, sagte der Graf: »Du kannst jetzt zurück in deine Kammer gehen, Junge. Deine Lektion ist für heute beendet.«
    Darauf verabschiedete sich Hagen geschwind und kletterte durch die Falltür. Von

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