Niccolòs Aufstieg
zurück, ganz leise. Die Stimme, die dem Junge helfen konnte, war nicht die eines Arztes. Die Stimme, die ihm helfen konnte, existierte nicht. Es gab nichts, was Tobias tun konnte. Und der arme, törichte Narr wollte keine Hilfe. Sonst würde dies nicht geschehen, so wie es geschah, in schmerzhafter und vollkommener Stille.
KAPITEL 9
Die Geschichte von der gefährlichen Begegnung des Charetty-Lehrlings mit dem Schotten wurde am selben Abend dem Stadtrat berichtet und kurz besprochen. Man beschloß abzuwarten, ob das Problem sich nicht auf natürlichem Weg lösen würde. Andererseits war allen klar, daß Tobias Beventini da Grado ein hervorragender Arzt war.
Und der wurde, auch wenn er meistens mit seinen eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, ihren Befürchtungen, oder Erwartungen, gerecht. Er widmete seinem Patienten das erforderliche Maß an sachkundiger Betreuung, und als es Zeit wurde, ihn nach Brügge zu bringen, fand er Mittel, ihn für die beschwerliche Reise unempfindlich und für alle neugierigen Fragen unempfänglich zu machen. Dem schlauen Doktor Tobias war längst klar, daß Ärger drohte, je nachdem, wer angeblich wen hatte umbringen wollen. Es wäre nicht das erste Mal, daß er einen Mann zusammengeflickt hatte, nur um ihn hängen zu sehen. Doch das war nicht seine Sache.
In Brügge lud er den Jungen im Haus seiner Arbeitgeberin ab, sorgte dafür, daß er gut untergebracht wurde, und verabschiedete sich mit der erklärten Absicht, sich (endlich) zu betrinken. Die Verachtung des Charetty-Erben Felix hatte er wirklich verdient. Tja, Felix. Wenn Hilfe gebraucht wurde, war ja Quilico da. Tobias, der Quilicos Arzttasche gesehen hatte, fragte sich allerdings, wen oder was dieser Mann in den vielen Jahren in den Kolonien eigentlich behandelt hatte, und nahm sich ein ausführliches Gespräch mit dem levantinischen Arzt vor.
Tobias hatte Felix’ Blick richtig interpretiert. Erstaunlicherweise hatte die ganze Geschichte ausgerechnet ihn in höchstem Maß erregt. Sein leidenschaftlicher Auftritt am Kai war vor allem verletztem Stolz entsprungen: dem drängenden Impuls, seine Mutter, ihr Unternehmen und Claes, das Eigentum dieses Unternehmens, zu verteidigen. Diese Gefühle hatte er bislang nicht gekannt. Ob dieser Beschützerimpuls sich auch auf den Menschen Claes bezog, darüber dachte Felix nicht nach und wäre beleidigt gewesen, hätte man ihn danach gefragt.
Am entscheidenden Morgen verschlief Felix. Sonst wäre er bei Tagesanbruch zusammen mit Julius und seiner Mutter nach Sluis aufgebrochen, um Claes abzuholen. Bei der Ankunft des Kranken stand er nutzlos herum, als die in Decken gehüllte, ungewohnt stille Gestalt unten, am Ende des Hofs, aus dem Boot gehoben und auf einem Karren nicht in den lauten Schlafsaal, sondern in die Wohnräume seiner Mutter geschoben wurde. Und als seine Schwester Tilde zu weinen begann, fuhr er sie grob an.
Es verdroß ihn, daß Claes nicht mit ihm sprechen wollte oder konnte und daß die Ärzte später, als Claes scheinbar den Verstand zu verlieren und heftig zu fiebern begann, sich mit ihren Anweisungen an Julius wandten. Es verdroß ihn, daß Julius und seine Mutter an Claes’ Bett saßen und sich um ihn kümmerten, wenn sie Zeit hatten.
Drei Tage lang wurde Felix die Tür vor der Nase zugeschlagen. Das war ungerecht. Er brauchte Auskünfte von Claes, Als er sich am vierten Tag von neuem beschwerte, schnitt seine Mutter ihm mit ungewohnter Schärfe das Wort ab. Ob er Claes vielleicht durch das Loch in der Brust aushorchen wolle, fragte sie. Dann solle er das doch einmal versuchen.
Felix war hoch erfreut. Ohne jede Hemmung lief er ins Krankenzimmer, verdrängte ein errötendes Mädchen, das auf dem Weg hinaus mit seinem Tablett noch einmal stehengeblieben war, und setzte sich auf einen Hocker neben Claes’ Lager.
»Also! Wer war’s?« fragte er und beugte sich vor. »Du solltest dein Gesicht sehen! Ich hole einen Spiegel. Weißt du noch, das Färbebad neulich, bei dem irgendwas schiefging und alles grau und gelb gestreift rauskam?«
Claes wirkte eigentlich ganz normal, die Lachgrübchen in seinem Gesicht jedenfalls kamen und gingen, und seine Stimme klang beinahe wie immer, als er sagte: »Du hättest mich gestern sehen sollen! Was ist mit Astorre?«
»Er hat meiner Mutter einen Heiratsantrag gemacht«, antwortete Felix. »Tut mir leid, ich kann’s nicht ändern, wenn dir das Lachen weh tut. Er sagte, Lionetto hätte sie beleidigt und es sei an ihm, ihre
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