Niccolòs Aufstieg
Dienstmädchen sie geholt hatte und sie an sein Bett geeilt war, ohne erst ihre Alltagskleider anzulegen: dieses feste, taillierte Kleid mit den schmalen Ärmeln und dem hochgeschlossenen Kragen; die Samthaube mit den steif abstehenden Flügeln und der drahtverstärkten, in die Stirn gezogenen Spitze, die ihr Haar vollständig bedeckte. Ein Segen eigentlich. Wenn sie einmal grau wurde, würde keiner es merken. Wenn ihr Körper dick wurde, brauchte sie nur die Schleppe ihres Kleides höher zu setzen, um es zu vertuschen.
Aber war das überhaupt von Bedeutung? Weder Astorre noch Oudenin noch einer der diversen anderen Bewerber wußten, wie sie wirklich aussah; so wenig wie Cornelis es in den letzten Jahren seiner Krankheit gewußt hatte. Sie war die Witwe de Charetty, ein wenig scharfzüngig und ein wenig schroff, und Eigentümerin eines gutgehenden mittelgroßen Handwerksunternehmens mit Erweiterungsmöglichkeiten.
Zu dem jungen Mann, den sie bereits seit seinem zehnten Lebensjahr kannte, aus jenen Tagen, als sie noch in glücklicher Ehe mit einem gesunden und lebensfrohen Cornelis gelebt hatte, sagte sie ungehalten: »Du vermutest, daß du fortgeschickt werden sollst, und beschwerst dich nicht, stellst keine ängstlichen Fragen. Willst du nicht einmal wissen, wohin?«
»Ihr kennt doch meinen größten Fehler«, erwiderte Claes. »Ich bin leicht zufriedenzustellen.« Und mit breitem Lächeln fügte er hinzu: »Es ist nicht meine Absicht, Euch zu verärgern. Aber es muß ein außerordentlich angenehmer Ort sein, wenn Felix den Wunsch hat, mich dorthin zu begleiten.«
»Du hast dich zwischen ihn und Lionetto gestellt«, sagte Marian de Charetty. »So wurde mir jedenfalls berichtet.«
Er sagte nichts, sah sie nur unverändert liebevoll an. Er wollte ihr über Felix nichts vormachen, und sie durfte sich auch selbst nichts vormachen. »Mich beschäftigt nicht Felix’ Haltung, sondern deine. Du hast Felix in Schutz genommen, und das hat zu jenen schlimmen Ereignissen geführt. Es muß dir doch wie höchste Undankbarkeit erscheinen, jetzt fortgeschickt zu werden.«
Wieder fegte er alles, was sie sagen wollte, vom Tisch. »Aber nein«, entgegnete er. »Ich habe mich schon lange vorher eingemischt, ohne darum gebeten worden zu sein. Ich habe meine Haut selbst zu Markte getragen.«
Er war mit dem Französischen groß geworden, und in seinem Flämisch schwang immer noch ein Anklang davon mit. Seine Stimme war, wenn er nicht gerade jemanden nachahmte, weich und ruhig und sachlich, selbst wenn er einen solchen Satz aussprach, der ihr in seiner Tiefgründigkeit einen Augenblick den Atem raubte. Bei Zunftsitzungen, bei heiklen Verhandlungen in einem Hansekontor dachte sie manchmal an Claes und Momente wie diesen, die immer häufiger vorkamen.
»Dann errätst du vielleicht«, sagte sie, »wer deinetwegen bereits an mich herangetreten ist.«
Nie hatte an einem Sitzungstisch jemand sie mit einem solchen Lächeln angesehen. »Vielleicht«, sagte er, »aber Ihr erwartet gewiß nicht, daß ich es Euch sage.«
Sie ordnete die vor ihr liegenden Papiere. »Ich habe eine Anfrage von Messer Alvise Duodo, dem Venezianer. Wenn ich dich freigebe, wird er dich bis zum Frühjahr auf den Flandern-Galeeren beschäftigen und dir auf der Heimreise eine Ausbildung mitgeben, die dir eine bezahlte Anstellung in Venedig sichert. Er möchte mit dir sprechen, ehe er entscheidet.«
»Und wer noch?« fragte Claes ernst.
»Das zweite Angebot kommt vom Dauphin, dem französischen Thronfolger, der sich zur Zeit im Haus von Meester Bladelin aufhält. Er erinnert sich offenbar lebhaft an eine Begegnung mit dir und Felix bei einem seiner Besuche in Löwen. Felix hat sich damals mit ihm über die Jagd unterhalten. Er bietet dir eine Stelle als Jagdgehilfe und, wie er es ausdrückte, gewitzter Botenjunge an. Er meinte, für meinen eigenen Sohn sei der Posten zu gering.«
»Aber Felix möchte ihn haben«, sagte Claes.
Sie antwortete nicht, sondern beobachtete ihn nur, während sie darauf wartete, daß er bei diesem subtilen Spiel den nächsten Zug machte … vier, fünf, vielleicht sechs solcher Gespräch hatte sie mit ihm geführt, seit sie wahrnahm, daß er plötzlich der Kindheit entwachsen war. Sechs solche Gespräche, in vernünftigen Abständen.
Mabelie war zweimal vorbeigekommen, nicht bereit zum Verzicht auf… Gespräche.
»Ach so, ich verstehe«, sagte Claes. »Felix möchte Jäger beim Dauphin werden, aber er weiß noch nicht, daß ein
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