Nicholas Dane (German Edition)
der Junge den Kopf gesenkt hielt. Ohne einen Moment zu überlegen, trat Nick ein Stück zurück in ein Geschäft und beobachtete die beiden beim Überqueren der Straße. Die Erinnerung durchlief Nick wie ein Schauer – zunächst aber nicht, weil er den Mann erkannte, obwohl er das tat. Es hatte mit ihm selbst zu tun.
Als Jones damals Tony Creal in der Kneipe entdeckt und aus dem Versteck heraus den Mann beobachtet hatte, der ihn viele Jahre zuvor missbraucht hatte, war er vermutlich ein bisschen jünger gewesen als Nick jetzt. Der liebe Tony war inzwischen pensioniert, aber er half immer noch in Heimen aus, in denen es Jungen gab, die einer besonderen Fürsorge bedurften. Nick war genau wie Jones ein Produkt dessen, was Creal ihm angetan hatte. Insofern waren sie beinahe Brüder. Als Nick jetzt dieselbe Situation erlebte wie Jones damals, fühlte er sich Jones näher denn je. All das Entsetzliche seiner Vergangenheit stieg in ihm hoch, und einen Moment lang, als er sich in den Ladeneingang drückte, war er sich nicht sicher, ob er es vermeiden könnte, ein ebenso tragisches Ende wie Jones zu nehmen.
Mit blankem Entsetzen begriff Nick, dass der alte Mann vor ihm auf der Straße nach wie vor dasselbe tat. Zwanzig Jahre? Wirklich so lange? Und wie viele Jahre davor? Und wie viele Jungen? Wie viele Nick Danes und Olivers … wie viele Jones hatte dieser niederträchtige Mann so vollkommen zerstört?
Nick war sich immer noch nicht sicher, ob er selbst wirklich entronnen war. Als er den Mann und dessen gegenwärtiges Opfer die Straße entlanggehen sah, wurde ihm speiübel. Sobald die beiden außer Sicht waren, ging er in die nächste Kneipe und betrank sich gründlich.
Am nächsten Tag und am übernächsten und am überübernächsten schob Nick immer wieder auf, was er eigentlich hätte tun müssen. Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und redete mit Maggie. Zum ersten Mal in seinem Leben fand er Worte für die Geschichte von Meadow Hill und Tony Creal und Oliver und Jones und allen anderen. Während Nick weinte und fluchte und tobte, schliefen seine beiden Söhne einen Stock über ihm den Schlaf der Gerechten. War es möglich, dass auch sie in die Hände von solchen Typen wie Tony Creal fallen könnten? Natürlich war es das. Das konnte jedem jederzeit geschehen.
Maggie kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was Nick hinter sich hatte, wie viele Tränen in ihm steckten.
»Du musst zur Polizei«, sagte sie.
Das wollte Nick nicht – er wusste noch ganz genau, dass mindestens einer der Männer, die ihn in der Arrestzelle vergewaltigt hatten, ein Polizist gewesen war. Aber am nächsten Tag ging er gemeinsam mit Maggie zu einem Anwalt und machte eine Aussage. Als das getan war, weinte er wie ein kleines Kind, und auch Tage danach brach er immer wieder in Tränen aus; aber der Ball war längst ins Rollen gekommen. Und es gab nichts, was ihn hätte aufhalten können.
Ein paar Jahre früher wäre allerdings nichts geschehen. Früher hätte die Kenntnis eines solchen Missbrauchs die Leute so verstört, dass sie weder die öffentlichen Institutionen noch die Gerichte damit hätten belasten wollen. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Inzwischen waren solche Fälle überall im Land ans Licht gekommen, und langsam wurde klar, dass sexuelle Gewalt in öffentlichen Einrichtungen für Kinder weiter verbreitet war, als man angenommen hatte. Sowohl in Manchester als auch in anderen Städten wurden Männer, die in ihrer Jugend in Meadow Hill oder in anderen Kinderheimen gewesen waren, befragt, ob sie ähnliche Erfahrungen wie Nick gemacht hatten. Die Akten wurden geprüft, alte Fälle neu untersucht und wiederaufgenommen. Drei Jahre später gab es die ersten Anklagen.
Es wäre schön, wenn man berichten könnte, Tony Creal hätte bekommen, was er verdient hatte, aber er war inzwischen fünfundsiebzig. Noch war er nicht gebrechlich, aber sein Anwalt hatte ihn gut vorbereitet. Als Creal auf der Anklagebank Platz nahm, war er fürchterlich gealtert, sozusagen über Nacht. Die schockierenden Anschuldigungen, die beschwerlichen Verhöre, der Hass, den ihm diese Affäre in seiner Nachbarschaft eingebracht hatte, all das hatte seinen Tribut gefordert, wie sein Anwalt bewegend schilderte. Der Richter bescheinigte Creal, dass er nicht verhandlungsfähig sei.
So wurde der Prozess gegen Tony Creal trotz wütender Proteste eingestellt. Aber eine Reihe seiner Kollegen, darunter auch Toms, landeten
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