Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
erwiderte der Magier unwirsch. Er stand links von Machiavelli im Schatten des Südturmes. »Aber wenn du es unbedingt wissen musst: Es war 1575.« Er streckte den Arm aus. »Dort drüben habe ich die Morrigan getroffen. Auf diesem Dach habe ich zum ersten Mal gehört, wer Nicholas Flamel wirklich ist, und hier habe ich von der Existenz des Codex erfahren, von Abrahams Buch der Magie. Da passt es ja vielleicht ganz gut, dass die Geschichte hier endet.«
Machiavelli beugte sich vor und schaute nach unten. Er stand fast direkt über dem westlichen Rosenfenster. Der Platz vor der Kathedrale hätte eigentlich voller Touristen sein müssen, war aber gespenstisch leer. »Und woher willst du wissen, dass Flamel und die anderen hier herauskommen?«, fragte er.
Dee verzog den Mund zu einem hässlichen Lächeln, das seine kleinen Zähne sichtbar machte. »Wir wissen, dass der Junge an Klaustrophobie leidet. Gerade sind seine Kräfte geweckt worden. Wenn er aus der Trance erwacht, in die Mars ihn versetzt hat, bekommt er Panik, und seine geschärften Sinne machen das Ganze nur noch schlimmer. Damit er nicht verrückt wird, muss Flamel ihn so schnell wie möglich da unten rausholen. Er weiß, dass es einen geheimen Gang aus der untergegangenen römischen Stadt in die Kathedrale gibt.« Plötzlich deutete er auf fünf Gestalten, die aus dem Hauptportal direkt unter ihnen stolperten. »Was habe ich gesagt?«, fragte er triumphierend. »Ich täusche mich nie!« Er sah Machiavelli an. »Du weißt, was zu tun ist?«
Der Italiener nickte. »Ja.«
»Du siehst nicht gerade glücklich darüber aus.«
»Ein schönes Bauwerk zu verschandeln, ist ein Verbrechen.«
»Und Menschen umzubringen nicht?«
»Menschen können immer ersetzt werden.«
»Ich muss mich eine Weile setzen«, keuchte Josh. Ohne auf eine Antwort zu warten, rutschte er aus den Armen seiner Schwester und Saint-Germains und hockte sich auf einen der glatten runden Poller, die in den mit Kopfstein gepflasterten Platz eingelassen waren. Erschöpft zog er die Knie an die Brust, legte das Kinn darauf und schlang die Arme um die Schienbeine. Er zitterte so stark, dass seine Füße auf den Stein trommelten.
»Wir müssen weiter«, drängte Flamel und blickte sich um.
»Eine Minute wirst du ja noch warten können«, fauchte Sophie. Sie kniete sich neben ihren Bruder und wollte ihm die Hand auf den Arm legen, doch ein Funke sprang von ihr zu ihm über und sie zuckten beide zusammen. »Ich weiß, wie es dir gerade geht«, sagte sie leise. »Alles ist so … so hell, so laut, so deutlich. Deine Kleider sind schwer und fühlen sich rau an auf der Haut und die Schuhe sind zu eng. Aber du gewöhnst dich daran. Es geht vorbei.«
»Mir brummt der Kopf«, murmelte Josh. »Es fühlt sich an, als würde er gleich explodieren, als sei er vollgestopft mit zu vielen Informationen. Mir kommen ständig die merkwürdigsten Gedanken …«
Sophie runzelte die Stirn. Das hörte sich seltsam an. Als ihre Kräfte geweckt worden waren, hatten ihre geschärften Sinne sie mit Eindrücken überrollt, doch erst als die Hexe von Endor ihr ganzes Wissen auf sie übertragen hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, ihr Kopf würde explodieren. Plötzlich kam ihr ein Gedanke: Als sie in die Knochenkammer gestürzt war, hatte sie gesehen, dass der Gott seine Hand auf den Kopf ihres Bruders gelegt hatte. »Josh«, begann sie leise, »was hat Mars gesagt, als er deine Kräfte geweckt hat?«
Ihr Bruder schüttelte unglücklich den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Denk nach!«, forderte sie ihn schroff auf. Beim Klang ihrer Stimme zuckte er zusammen. »Bitte, Josh«, fügte sie leiser hinzu, »es ist wichtig.«
»Du bist nicht mein Boss«, murmelte er mit einem schiefen Lächeln.
»Ich weiß.« Sie grinste. »Aber immer noch deine große Schwester. Und jetzt sag schon!«
Josh runzelte die Stirn, doch schon dieses kleine Muskelspiel schmerzte. »Er hat gesagt … Er hat gesagt, dass das Erwecktwerden kein Geschenk sei, sondern etwas, für das ich später bezahlen müsste.«
»Und weiter?«
»Weiter hat er gesagt …, dass meine Aura eine der mächtigsten wäre, die er je gesehen hätte.« Josh hatte den Gott angeschaut, als er das gesagt hatte. Es war das erste Mal gewesen, dass er ihn mit geschärften Sinnen gesehen hatte, und ihm waren in allen Einzelheiten die verschlungenen Gravierungen auf dem Helm und das kunstvolle Muster auf dem ledernen Brustpanzer aufgefallen und unmissverständlich auch der Schmerz,
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