Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
beobachtete. Ihre Auren loderten um sie herum, Silber- und Goldwehen miteinander verwoben. Auf ihrer Haut waren Spuren alter Rüstungen zu erkennen. Ihre Kraft war unvorstellbar – und anscheinend unerschöpflich. Er wusste, dass eine solche Kraft die Welt beherrschen, erneuern oder auch zerstören konnte.
Und als das letzte steinerne Ungeheuer zu Staub zerfallen war und die Auren der Zwillinge erloschen, fragte der Alchemyst sich zum ersten Mal, ob die Entscheidung, ihre Kräfte zu wecken, richtig gewesen war.
Vom Dach der Kathedrale aus beobachteten Dee und Machiavelli, wie Flamel und die anderen sich ihren Weg durch rauchende Steinhaufen bahnten und Richtung Brücke gingen.
»Wir stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten«, sagte Machiavelli mit zusammengebissenen Zähnen. Der Pfeil steckte nicht mehr in seinem Oberschenkel, aber das Bein war immer noch taub.
»Wir?«, fragte Dee leichthin. »Das hier ist ganz allein deine Schuld, Niccolò. Zumindest wird es so in meinem Bericht stehen. Und du weißt, was dann passiert, ja?«
Machiavelli richtete sich auf. Er lehnte sich an die Mauer, um sein verletztes Bein zu schonen. »Mein Bericht wird anders ausfallen.«
»Niemand wird dir glauben«, entgegnete Dee überzeugt und wandte sich ab. »Man weiß doch, dass du ein Meister im Lügen bist.«
Machiavelli griff in seine Tasche und zog ein kleines digita les Aufnahmegerät heraus. »Dann ist es ja gut, dass ich alles, was du gesagt hast, auf Band habe.« Er klopfte leicht auf das Gerät. »Sprachgesteuert. Es hat jedes Wort aufgezeichnet, das du zu mir gesagt hast.«
Dee blieb stehen. Langsam drehte er sich um und betrachtete das schmale Aufnahmegerät in der Hand des Italieners. »Jedes Wort?«, fragte er.
»Jedes Wort«, bestätigte Machiavelli grimmig. »Ich glaube doch, dass die Älteren meinem Bericht Glauben schenken werden.«
Dee starrte den Italiener einen Herzschlag lang an, dann nickte er. »Was verlangst du?«
Machiavelli wies auf das Chaos unten auf dem Vorplatz. Sein Lächeln war furchterregend. »Du hast gesehen, wozu die Zwillinge imstande sind … Und ihre Kräfte wurden gerade erst geweckt, sie sind noch nicht einmal richtig ausgebildet.«
»Was schlägst du vor?«
»Jeder von uns beiden hat Zugang zu außergewöhnlichen Mitteln. Wenn wir zusammenarbeiten statt gegeneinander, sollte es uns gelingen, die Zwillinge ausfindig zu machen, in unsere Gewalt zu bringen und auszubilden.«
»Sie ausbilden!«
Machiavellis Augen begannen zu glitzern. »Sie sind die legendären Zwillinge. ›Die zwei, die eins sind, das Eine, das alles ist.‹ Wenn sie erst sämtliche Zweige der Elemente-Magie beherrschen, wird sie keiner mehr aufhalten können.« Sein Lächeln wurde animalisch. »Wer sie in der Hand hat, hat die Welt in der Hand.«
Der Magier drehte sich um und schaute mit zusammengekniffenen Augen über den Platz. Hinter der Wolke aus Rauch und Staub war Flamel gerade noch zu erkennen. »Glaubst du, der Alchemyst weiß das auch?«
M ONTAG, 9. Juni
K APITEL F ÜNFUNDFÜNFZIG
U m genau 12:13 Uhr verließ der »Eurostar« den Pariser Nordbahnhof und trat seine zwei Stunden und zwanzig Minuten dauernde Reise zum internationalen Bahnhof St. Pancras in London an.
Nicholas Flamel saß in der ersten Klasse an einem Tisch gegenüber von Sophie und Josh. Saint-Germain hatte mit einer speziell geschützten Kreditkarte die Fahrkarten gekauft und die drei mit französischen Pässen ausgestattet, die er schon fertig mit Passfotos bekommen hatte. Die Fotos auf den Pässen der Zwillinge glichen den beiden absolut nicht und in Flamels Pass war das Bild eines jungen Mannes mit dichtem pechschwarzen Haar.
»Falls jemand fragt, sagst du einfach, du seist in den letzten Jahren stark gealtert«, hatte Saint-Germain grinsend gesagt.
Johanna von Orléans war den ganzen Morgen beim Einkaufen gewesen und hatte Sophie und Josh danach jeweils einen Rucksack mit Kleidern und Toilettenartikeln überreicht. Als Josh seinen öffnete, hatte er sofort den kleinen Laptop entdeckt, den Saint-Germain ihm tags zuvor geschenkt hatte. War es wirklich erst gestern gewesen? Es schien schon so lange her zu sein.
Nicholas breitete die Zeitung vor sich aus und zog eine billige Lesebrille aus der Tasche, die er sich in einem Drogeriemarkt gekauft hatte. Er hielt die Le Monde hoch, damit die Zwillinge die Titelseite sehen konnten. Sie zeigte die von Nidhogg angerichtete Verwüstung.
»Hier steht, dass ein Teil der Katakomben eingestürzt
Weitere Kostenlose Bücher