Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Student gelesen. Wie schwierig es aber ist, diese Erkenntnis ins Leben zu rufen, habe ich erst viel später richtig begriffen.
Ich möchte das mit einem Blick auf das Jahr 1989 erläutern: Wie einfach war es und wie verbunden waren wir alle miteinander, als wir ablehnten, was uns klein machte und uns zu nutzlosem Beiwerk des Staates erklärte. Die DDR -Regierung nannte uns zwar »Bürger«. Und »Bürger, weisen Sie sich aus!«, sagte der Volkspolizist, wenn er junge Menschen auf der Straße anhielt und sie brav und gehorsam ihre Personalausweise herausziehen mussten. Dabei wussten wir, gelehrt von der europäischen Aufklärung und einigen Staaten, in denen Demokratie schon zu Hause war, dass Bürger diejenigen Menschen sind, die Bürgerrechte haben und diese auch ausüben können. Wir, die wir diese Bürgerrechte nicht hatten, waren zwar auch wertvoll und hatten auch unsere Würde – aber Bürger waren wir nicht. Und weil ich diese Vorstellung so bedrückend, beklemmend und entwürdigend fand, rettete ich mich wie viele andere Menschen, wenn sie Bücher schreiben oder lesen, aus der Wirklichkeit in die Gedankenwelt.
Die Freiheit war nicht dort, wo ich lebte. Die Freiheit war in meinen Sehnsüchten, in meinen Gedanken. Hier wurde sie stark. Und wie viele Deutsche vor mir tröstete ich mich mit dem alten Volkslied:
Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten?
Sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
mit Pulver und Blei:
Die Gedanken sind frei!
Das ist es, was der Deutsche glauben kann: »Die da« mögen uns unterdrücken, aber in mir gibt es ein Reich der Freiheit. Diese Vorstellung wärmte uns eine Zeit lang, machte uns aber politisch nicht satt. Und so war das Besondere eigentlich die zweite Etappe nach 1989, als die Freiheit gekommen war und die Frage entstand: Und du, wozu bist du imstande, wofür willst du dich einsetzen? Wie willst du Freiheit gestalten?
Verantwortung
Ein Jahr etwa nach der friedlichen Revolution kam ich einmal wieder in meine Heimatstadt Rostock. Da kam ein ehemaliger evangelischer Amtsbruder und beklagte sich: »Du glaubst nicht, wer jetzt alles in die Ämter drängelt. Also erstens die alten Genossen und zweitens die Katholiken.« Gegen die Katholiken habe er zwar nichts, nur hätten sie früher ein bisschen deutlicher aufbegehren können. Er empfand Widerwillen gegen die neue Situation. Doch ich zeigte kein Verständnis, fragte vielmehr: »Lieber Freund, hast du denn selbst den Finger gehoben, als es um die Ämter ging, auf denen jetzt die sitzen, deren Anwesenheit du beklagst?«
Auf die Idee war er nicht gekommen: Er sei bereit, Macht kritisch zu beäugen und zu kontrollieren. Aber selbst Macht ausüben? Dazu sei er gar nicht ausgebildet. Und hätte Macht nicht immer einen schlechten Beigeschmack? Da war es, dieses merkwürdige Unvermögen, aktiv zu werden, wenn aus der Sehnsucht nach Freiheit die Gestaltung von Freiheit wird, wenn wir Freiheit von etwas schon erleben durften, aber Freiheit zu etwas noch nicht können. Plötzlich füllen dann diejenigen die öffentlichen Räume, die wir dort gar nicht sehen möchten. Das galt besonders für die Vertreter der alten Macht. Die waren Machtausübung schon gewöhnt und hatten Ellbogen. Und die westdeutschen Ellbogenmenschen konnten mit jenen ganz gut sprechen, die ihre Ellbogen schon in der Diktatur trainiert hatten. Besonders im Bereich der Wirtschaft klappte das Zusammenspiel hervorragend. Es waren ja nicht die Dissidenten, die als vertrauenswürdig galten und Posten übertragen bekamen. Es waren die, die schon gezeigt hatten: Wir machen das Ding. Sie folgten den Aufträgen ihrer neuen Herren, wie sie zuvor denen ihrer alten gefolgt waren.
Zu üben ist also nicht eine Fähigkeit, die wir mühsam studieren müssen, zu üben ist die Bereitschaft, Ja zu sagen zu den vorfindlichen Möglichkeiten der Gestaltung und Mitgestaltung. Dieses Verhältnis zu der uns umgebenden Wirklichkeit dürfen wir als Verantwortung bezeichnen. Ich habe mir angewöhnt, die Freiheit der Erwachsenen »Verantwortung« zu nennen.
Wenn ich für Freiheit als Verantwortung werbe, gerade bei Menschen, die nicht in politischen Ämtern stehen, mache ich das so: Wir können das eigentlich alle. Denn wir alle haben ein natürliches Empfinden für eine Aufgabe oder für eine Hingabe. Schon bevor wir politisch werden, lernen wir, dass es möglich ist, sich selbst aus dem Zentrum der eigenen Wahrnehmung
Weitere Kostenlose Bücher