Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
herauszunehmen.
Wir alle haben dies erlebt, wenn wir einen anderen Menschen lieben. Mit einem Mal bin ich mir selbst nicht mehr der Wichtigste, sondern will alles tun für den geliebten Menschen, für diese Frau, für diesen Mann. Am deutlichsten erleben wir das wohl bei einem kleinen Kind, vor allem bei einem eigenen. Ich sehe es an, und schon erwachen in mir das Bedürfnis und die Bereitschaft, für dieses Wesen da zu sein – es zu schützen, es zu bewahren, es ihm schön zu machen, ihm ein Nest zu schaffen. Sehr viele von uns haben das erlebt.
Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir immer meine jüngste Tochter ein. Noch vor zwei Jahren führte sie bewegte Klage über ihre ehemaligen Kommilitoninnen. Sie waren alle begeisterte Mütter geworden, während meine Tochter fand, das Leben dieser Personen sei in einer inakzeptablen Weise eingeschränkt. Tag und Nacht um die Brut herum? Die Brutpflege hielt sie für etwas, das die eigene Freiheit auslöscht und das Leben unter eine schwere Last stellt. Sie wisse nicht, ob sie so etwas je akzeptieren könne. Nun, man ahnt es schon. Vor einem Jahr hat mir diese kostbare Frau mein jüngstes, mein neuntes Enkelkind geschenkt. Und jetzt überbietet sie alle anderen, die sie vorher kritisiert hat, an Hinwendung und behauptet, ihr Leben sei so wunderbar. Das sei aber auch glasklar, denn sie hat einen ganz überzeugenden Grund: Sie kann jedermann erklären, dass ihr Kind objektiv das süßeste ist.
Es hat sich etwas total in ihr gewandelt in dem Augenblick, als eine neue Lebenswirklichkeit den Schwerpunkt in ihrer Person verlagert hat. Wir begreifen: Wir sind geboren zur Lebensform der Bezogenheit. Wir erleben sie als eine zentrale Menschenmöglichkeit, lange bevor wir sie politisch als Bürgerinnen und Bürger erfassen – meist keinesfalls als erdrückende Last, sondern als glückhaftes Geschehen, als Teil unserer humanen Existenz.
Jeder von uns mag einen anderen zentralen Gedanken, eine zentrale Erfahrung oder eine zentrale Begrifflichkeit für diese Wirklichkeit haben. Mir als evangelischem Theologen kommt aus der Heiligen Schrift der Juden und Christen eine ganz besondere Sentenz ins Bewusstsein – ein Abschnitt aus dem Buch Genesis, der in der Luther-Übersetzung folgendermaßen lautet:
»Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zu Gottes Bilde schuf er ihn« (1 Mos/Gen 1,27).
In meinen jungen Jahren hat mich dieses Wort eher erschreckt. Denn ich begann mein Theologiestudium in der Nachkriegszeit, als jeder halbwegs denkende und empfindende Mensch tief verunsichert war, wenn er ein Deutscher war. Ich mochte dieses Land nicht mehr, ich mochte diese Kultur nicht mehr, die die Barbarei nicht verhindert hatte und uns in eine tiefe Schuld geführt hatte. Ich mochte den Glauben nicht mehr und konnte kein Loblied auf Gott singen. Es erschien mir eine unüberwindliche Aufgabe, nach Auschwitz an Gott zu glauben. Und ich weiß nicht, wie oft ich diesen Glauben unterwegs ein wenig verloren hatte und wann ich ihn wiedergefunden habe.
Damals konnte mir ein anthropologischer Gottesbegriff wenig Verheißung sein. Er erschien eher als eine Bedrohung. Und ich hoffte, nie darüber predigen zu müssen. Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe, tatsächlich nicht darüber zu predigen – wahrscheinlich habe ich diesen Text manchmal einfach ausgegrenzt.
Dann aber fiel mir vor ein paar Jahren plötzlich eine Interpretation ein. Ich begriff bei einem Lesen etwas neu, das sich in meinem Leben schon abgezeichnet hatte. Ich konnte jetzt so lesen: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde mit der wunderbaren Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen.
Es gibt so viele Geschöpfe auf der Erde, aber nur eines mit der Fähigkeit, für sich selbst, für das Du neben sich und den Raum um sich herum Verantwortung zu übernehmen. Ich kann Verantwortung also aus meinem Glauben herleiten. Und ich fand und finde es großartig, etwas in uns zu wissen, das mit seiner Potenz unsere begrenzten Kräfte überbietet. In unserer Verantwortungsfähigkeit steckt ein Versprechen, das dem Einzelnen wie dieser ganzen Welt gilt: Ihr seid nicht zum Scheitern verurteilt.
Dies zu entdecken, hat mich das Leben gelehrt und nicht nur das Nachsinnen und Nachverfolgen edler Gedanken von Menschen, die fähig sind, Gedichte, Traktate und Essays zu schreiben, die ich sehr liebe. Ich habe es im Alltag gelernt.
Es ist freilich so, dass Verantwortung und Bezogenheit nicht nur von Glaubenden, von Christen, von Juden,
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