Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
glücklicherweise gestoppt und alte Bausubstanz gerettet wurde. In Städten und Dörfern Ostdeutschlands sind die Narben aus der Vergangenheit weiter sichtbar, auch wenn manch Westdeutscher uns um unsere neuen Straßen beneidet.
Narben sind auch noch bei den Menschen erkennbar – zumindest wenn sie ein gewisses Alter überschritten haben. Tief in uns blieb ein Raum, in dem sich alte Angst und alte Hoffnung, alte Sehnsucht neben altem Trotz und altem Versagen eingenistet haben. Mit Ostdeutschen habe ich eine gemeinsame Tradition, die selbst mich und all die anderen prägte, die wir uns im Widerspruch zum System befanden, und die in uns weiter wirkt, selbst wenn die meisten von uns sie im Laufe der Zeit auf neue Weise zu sehen gelernt haben.
Wir hatten uns Gegenwelten geschaffen – in unseren Kirchgemeinden, in Freundeskreisen, in Künstlergruppen. Kulturelle Inseln. Auch wenn diese kleinen Spielräume nichts an der politischen Ohnmacht änderten, so haben sie uns doch eine nicht verordnete, eigenständige Nähe geschenkt, auch Geborgenheit und Wärme. Und so lasse ich sie nun manchmal in mir zu, die Sehnsucht nach der Sehnsucht, die ihr Ziel verlor, als die erträumte Freiheit Wirklichkeit wurde. Ein später Abschied ist das. Und ich bin mir sicher, dass kaum jemand von denen, die jetzt in der Hufelandstraße wohnen, diese Wehmut verstehen würde. Daraus will ich keinen Vorwurf machen, ich weiß es ja, das Leben ist weitergegangen. Aber meiner Berliner Cousine sind diese Gefühle genauso vertraut wie dem älteren Rostocker Gesprächspartner, mit dem ich in einem der schön restaurierten Lokale zufällig in ein Gespräch komme. Im Café in der Hufelandstraße hingegen steigt der Wunsch zum Austausch gar nicht auf. Die Neubürger in der Hufelandstraße sind fast alle Zugereiste, die weder die DDR noch den Umbruch kennen, denn ihre Elternhäuser stehen in München, Stuttgart oder Ulm.
Einerseits hat die Hufelandstraße Glück gehabt. Die Eigentumsverhältnisse wurden schnell geklärt, die Straße in verschiedene Sanierungsprogramme einbezogen, es floss privates Geld aus westlichen Bundesländern, und kluge Investoren und Stadtplaner waren bestrebt, das Alte zu erhalten und das Neue anzupassen.
Andererseits hat sie aber auch etwas verloren. Selten hat ein so umfassender Bevölkerungsaustausch stattgefunden wie in dieser Straße. Hier hat sich der Westen nicht mit dem Osten vermischt, hier hat der Westen den Osten an den Rand gedrängt.
In der äußeren Anmutung mag es so sein wie früher vor dem Krieg. Die Straße ist wieder eine vornehme Wohngegend mit großzügigen Wohnungen für gut situierte Leute. Das freut jene, die sich noch erinnern. Doch von diesen »Alten« lebt kaum noch jemand hier. Die Ersten setzten sich in den 1950er Jahren in den Westen ab – wegen der Freiheit, wegen der Schulausbildung der Kinder, wegen der besseren Rente.
Später zogen Bewohner aus den Hinterhöfen in die Neubauwohnungen der Plattensiedlungen am Stadtrand – wegen der Heizung, wegen des Fahrstuhls und der »Nasszelle« mit Plastikverkleidung. Ein wahrer Aderlass setzte dann nach 1989 ein. Manche Altbewohner flüchteten bereits vor der Sanierung, andere wurden in der Umbruchzeit durch unsanfte Behandlung zur »Ummietung« gedrängt, noch andere konnten die sanierten Wohnungen aus finanziellen Gründen nicht halten.
Ich fremdele ohne diese Menschen. Ich vermisse das Vertraute. Ich spüre am eigenen Beispiel, dass, wer nach der »inneren« Einheit fragt, sich noch ein wenig gedulden muss. Meinungsumfragen zeigen beispielsweise zu Themen wie Freiheit oder Gerechtigkeit noch signifikante Unterschiede zwischen Ost- und Westbevölkerung: In der von Westdeutschen bewohnten Hufelandstraße wählen mehr als vierzig Prozent die Grünen, in Berlin-Marzahn wählen nahezu genauso viele Menschen Die Linke.
Bei den Neubürgern der Hufelandstraße spüre ich das Anderssein besonders deutlich: Zum Mentalitätsunterschied kommt der Generationenunterschied. Die Bewohner, gleichgültig ob aus Bayern oder Sachsen, gehören fast alle einer einzigen Altersgruppe an – eine Erscheinung, wie sie nicht nur in Berlin einmalig sein dürfte.
Fünfundzwanzig- bis Vierzigjährige haben sich die Straße Schritt für Schritt erobert, Gleichgesinnte nachgezogen, Alte und Arme verdrängt und arme Ausländer erst gar nicht hereingelassen. Manchmal mit eigenem, öfter wohl mit dem Geld der Eltern haben sie eine Oase geschaffen, die ihren Bedürfnissen als
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