Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
debattiert werden, ob konservative, liberale oder linke Vorstellungen einer sozialen Marktwirtschaft eher gerecht werden oder bessere Lösungen für künftige Krisen anbieten. Aber wer meint, dass Entfremdung einzig in den kapitalistischen Ländern auftrete, der ist blind oder ideologisch. Wir haben ganze Erdteile erlebt, in denen fast keiner über Kapital verfügte, aber die Entfremdung viel größer war als in Ländern und Gesellschaften mit Kapital. Außerdem ist eines klar: Wir sind nicht allein und nicht primär durch unsere Rolle im Wirtschaftsleben bestimmt. Entscheidend ist die Teilhabe an der Macht oder die Unterwerfung unter die Macht, die uns zu Bürgern oder zu Nichtbürgern macht.
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Sechzig Jahre nachdem diese Republik sich zu einer demokratischen Republik erklärt hat, können wir daran glauben, dass sie es vermag, eine demokratische Gesellschaft zu sein. Nun müssen wir dieser Gesellschaft dabei helfen, daran zu glauben, dass sie den neuen Herausforderungen gewachsen sein wird. Denn nur wenn wir an die Potenzen glauben, die in uns verborgen sind, wenn wir sie nutzen und anwenden, werden wir mit uns selbst zufrieden und anderen ein Segen sein können. Die Bewusstheit darüber, wozu wir in der Zukunftsgestaltung imstande sind, muss deutlicher neben die Bewusstheit darüber treten, welche Fehler und Verbrechen wir oder unsere Vorfahren in der Vergangenheit begangen haben.
Ich wünschte mir, dass sich unsere Gesellschaft tolerant, wertbewusst und vor allen Dingen in Liebe zur Freiheit entwickelt und nicht vergisst, dass die Freiheit der Erwachsenen Verantwortung heißt.
53 Auszug aus der Rede auf dem Neujahrsempfang 2011 der Evangelischen Akademie für Politische Bildung Tutzing vor Gästen aus Politik, Wirtschaft und Kirchen, in: Joachim Gauck, Freiheit, München 2012.
Freunde und Fremdeln
Der Beitrag erschien 2010 54
Die Fotos von Harf Zimmermann 55 bringen die Erinnerung zurück. Ich rieche wieder den Rauch der Kohleöfen und die Abgase der Trabis. Ich starre noch einmal auf abbröckelnde Fassaden, in denen sich Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg finden, auf Eingangstüren, die schief in den Angeln hängen, tauche noch einmal ein in das endlose, eintönige Grau, das die Republik von Süden bis Norden beherrschte. Hufelandstraße war überall – in meiner Heimatstadt Rostock genauso wie im Prenzlauer Berg, wo meine Cousine Gesine gleich nebenan in der Greifswalder Straße wohnte, am Rande des Bötzow-Viertels, nur wenige Meter von der Hufelandstraße entfernt.
Als ich nun zwanzig Jahre nach dem Untergang der DDR die Hufelandstraße noch einmal hinauf- und hinunterspaziere, spüre ich Genugtuung und Freude in mir aufsteigen: Was für eine wundersame Verwandlung! Wie schön! Pastellfarben die Fassaden, Bäume auf beiden Straßenseiten (anstelle der Platanen hätte ich mir nur die Linden gewünscht, die früher hier standen), Blumen auf den restaurierten Balkonbrüstungen, breite Bürgersteige mit fest verankerten Fahrradständern, geschickt eingepasste Neubauten.
Ich setze mich an einen der vielen Tische auf den Gehwegen, bestelle Naturjoghurt gemischt mit Heidelbeeren und kann auch dem selbst gebackenen Marmorkuchen nicht widerstehen. Um mich herum junge Frauen, einige schwanger, andere mit einem oder mehreren kleinen Kindern. Eine ruhige, heitere Atmosphäre.
Keiner hastet, keiner ist erregt, die Gesichter entspannt. Vielleicht weil es heiß ist, vielleicht weil Ferien sind, mutet die Straße trotz vierstöckiger Bebauung wie eine Kleinstadt aus dem Bilderbuch an, die weder Krise noch Armut oder Unglück kennt.
Hufelandstraße, das wird mir schnell klar, ist nicht mehr überall. Sie ist schöner als erwartet, aber auch fremder als erwartet. Sie liegt im alten Osten, doch der alte Osten ist aus ihr gewichen.
Auch in meiner Heimatstadt Rostock haben viele Häuser in den vergangenen beiden Jahrzehnten schöne, helle Fassaden erhalten. Auch in Rostock haben neue Cafés und Bistros eröffnet, die Gäste an warmen Tagen mit Tischen auf den Gehwegen locken. Doch zwischen den sanierten Gebäuden klaffen immer noch Baulücken, sind Häuser eingerüstet, wühlen sich Bagger in die Erde, wird immer noch abgerissen, neu gebaut.
Nicht jede Sanierung ist zudem gelungen, und Plattenwohnungen aus der DDR -Zeit schieben sich wie Ausstellungsstücke einer verirrten Architektur bis in die Innenstadt vor. Rostock und Stralsund und Leipzig und Chemnitz sind noch nicht heil, auch wenn der Verfall
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