Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
junge Familien mit Kleinkindern besonders entgegenkommt. Sie wissen den geringen Verkehr zu schätzen, die schattigen Gehwege, den Friedrichshain-Park am Ende der Straße, dessen Wiesen große Spielflächen für die Kleinen bieten. Und weil Berlins Mitte nur wenige Minuten entfernt liegt, hat die Straße auch noch Prominente aus Film, Medien und Politik angezogen, die zentral wohnen, aber nicht ständig der Aufmerksamkeit von Touristen ausgesetzt sein wollen, etwa wie im Ausgehviertel vom Kollwitzplatz gleich nebenan.
Die Hufelandstraße ist etwas Besonderes.
Die Bewohner bilden eine Weltanschauungsgemeinschaft ohne offizielle Mitgliedschaft. Sie frönen fast durchgängig derselben Lebensphilosophie, in der die Priorität den Kindern gebührt. Für die Kinder kann nichts gut genug sein, über Kinder laufen die Kontakte, vor den Kinderwagen haben Ältere zu weichen. Es gibt viele Kitas, ein freies Eckgrundstück soll zu einem weiteren Spielplatz umgebaut werden, Geschäfte führen spezielle Kleidung für Mutter und Kind. Erst vor Kurzem hat man die Kreuzungen verengt, um die Autofahrer zu langsamem Fahren zu zwingen.
Ich habe selbst vier Kinder, neun Enkelkinder und inzwischen auch einen Urenkel. Aber mein Leben und das meiner Alterskohorte hat sich nie so stark um die Kinder gedreht. Bei meiner jüngsten Tochter Katharina ist das bereits anders. Ganz offenkundig nähern sich die jungen Generationen aus Ost und West einander an. Gleichzeitig aber scheint sich gerade in der Haltung gegenüber den Kindern noch ein gewisser Mentalitätsunterschied zu halten.
Die Tochter meiner Cousine ist vor ein paar Monaten aus dem Viertel weggezogen, obwohl sie selbst zwei kleine Kinder hat. Die einseitigen Gesprächsthemen vertrug sie, die Ostdeutsche, nicht mehr und ebensowenig die einseitige Bevölkerungsstruktur und deren Selbstgewissheit. Auch ich spüre bereits nach kurzer Zeit, dass mich stört, was die jetzigen Bewohner glücklich macht. Früher gab es die Monotonie der Tristesse, heute gibt es die Monotonie einer neubürgerlichen Familienidylle.
Die schönen Fassaden, die mich beim ersten Spaziergang einfach nur beglückten, wirken plötzlich auch wie Fassaden, die etwas verdecken. Wahrscheinlich, sage ich mir, ist es zu früh für die Neubürger, um ein Interesse an der Geschichte ihrer Straße zu entwickeln, wo sie noch mit deren Adaption beschäftigt sind. Auch ich musste erst ein bestimmtes Lebensalter erreichen, um mich dafür zu interessieren, welches Lebensgefühl mein Großvater im Ersten Weltkrieg hatte und mein Vater im »Dritten Reich«.
Und doch wünschte ich, die Bewohner dieses Biotops, das heute eine urbane Liberalität ausstrahlt, würden eine Brücke schlagen zu jenen Altbürgern, die sich an die Gesichter der Straße in dunklen Zeiten erinnern.
Von Gisela Rittner aus der alten Nummer 22 könnten sie erfahren, wie ihr Vater die Nazi- und die DDR- Herrschaft überstand, ohne sich in die NSDAP oder die SED zwingen zu lassen. Inge Deutschkron aus der alten Nummer 9 wüsste zu berichten, wie ihr Vater, der Studienrat Dr. Martin Deutschkron, ein bekennender Sozialist, von den Nazis bedroht und der Balkon der Familie mit Steinen beworfen wurde.
Und Peter Birmele aus der jetzigen Nummer 43 könnte schildern, wie Schwule in der DDR nur in der evangelischen Gemeinde des Viertels ihren Ort fanden, an dem sie sich frei von staatlicher Einflussnahme treffen und Themen besprechen konnten.
Ich bin hier nur auf der Durchreise. Und ich will die Jungen und Zugewanderten nicht weiter stören. Doch die Stimmung wirkt in mir nach. Als ich zurückkehre in die laute Greifswalder Straße mit ihrer gemischten Wohnbevölkerung und ihren vielen Läden, habe ich ein ähnliches Gefühl, als hätte ich gerade eine Kleingartenanlage hinter mir gelassen. Eine Oase abseits der Krisen und Probleme des Alltags, wo sich Menschen eine eigene Ordnung geben und eine Gemeinschaft ganz eigener Art schaffen. Oft zeigen lyrisch-romantische Namen ihre Sehnsucht nach einer heilen Welt.
Wahrscheinlich gibt es das schon: ein Eingangstor, über dem das Schild eine »Frohe Zukunft« verheißt.
54 Auszug aus Joachim Gauck »Freunde und Fremdeln« (in Zusammenarbeit mit Helga Hirsch), in: Geo 2010, Heft 10, S. 60–66.
55 Der Ost-Berliner Fotograf Harf Zimmermann hat die Bewohner der Hufelandstraße kurz vor 1989 porträtiert. Nach zwanzig Jahren ist er noch einmal zurückgekehrt, um zu erinnern und zu vergleichen.
Unsere Demokratie wird
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