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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Museum des Warschauer Aufstands zeigt. Mir imponierte die immer wieder aufflammende polnische Freiheitsliebe – dieses Vermögen vieler Polen, das Unmögliche zu wagen. Mit dem Kopf könne man nicht durch die Wand, soll Marschall Józef Piłsudski gesagt haben. Aber wenn alles andere nicht funktioniere, solle man auch dies versuchen! Wenn ich ehrlich bin, macht mir diese bedingungslose Liebe, die bereit ist, das Leben hinzugeben, auch Angst.
    Ich war fünf, als der Krieg zu Ende ging. Und bis ich fünfzig war, musste ich wie die Polen in einer kommunistischen Diktatur leben. Viele Oppositionelle in der DDR , besonders in den Kirchen, waren angespornt von den Wellen polnischer Widerständigkeit in den 1970er und 1980er Jahren, einige auch schon früher, beim Posener Arbeiteraufstand 1956, drei Jahre nach unserem eigenen gescheiterten Aufstand von 1953. Nur einmal wagten wir den Widerstand früher als die Polen. Dann war die polnische Freiheitsliebe der deutschen immer voraus.
    Als in Polen der Schulterschluss zwischen Arbeitern und Intellektuellen schon vollzogen, die Ablehnung des Kommunismus offen formuliert und die unblutige Revolution schon geplant war, galt bei uns in der DDR noch die Hoffnung auf einen reformierten Sozialismus als mutig – und führte im Übrigen bereits zu Repression durch Stasi und SED .
    Viele Jahre war für DDR -Bürger nicht nur die Westgrenze verschlossen, sondern auch die Ostgrenze. Obwohl Polen ein »Bruderland« war, sollte es brüderliche Gefühle nur zwischen den Genossen, nicht aber zwischen der Bevölkerung und schon gar nicht zwischen den oppositionellen Kräften geben. An den Grenzen wurden, wenn sie denn geöffnet waren, Texte der polnischen Opposition und der freien Gewerkschaft im Gepäck gesucht, wie man heute nach verstecktem Rauschgift fahndet.
    Dann kam die Zeitenwende. Wieder waren die Polen uns voraus. Sie hatten schon ein (halb)freies Parlament, als wir uns noch mit Mahnwachen und Friedensgebeten begnügten. Doch die Entmachtung der Kommunisten in Polen vom Juni 1989 hat auch uns in der DDR Kraft und Zuversicht gegeben. Und im Herbst 1989 sahen wir selbst und unsere polnischen Nachbarn: Auch Deutsche können Freiheit!
    Was sich damals im Herbst 1989 ereignete, war Befreiung. Die Bevölkerung vereinte sich zu einem großen »Wir« gegen »die da oben«. Das war, liebe Lodzer Bürger, die große Zeit der Älteren unter uns. Aber heute, was ist heute aus dieser Befreiung geworden?
    III
    Die Einheit der vielen gegen die Diktatur ist nicht mehr nötig. Die vielen begegnen uns in der offenen Gesellschaft als Gruppierungen der Unterschiedlichen. Unterschiedliche Wert- und Zielvorstellungen, unterschiedliche Kulturen, Religionen, Geisteshaltungen, Nationalitäten wollen im öffentlichen Raum berücksichtigt werden. Freiheit ist nicht mehr umgeben von Glanz, sie hat den Arbeitsanzug angezogen – Politik wird zum »Bohren dicker Bretter«.
    Die Freiheit in der Freiheit ruft uns weniger in den Kampf als an die Arbeit; weniger in das Zerstören dessen, was kaputt macht, als in den Aufbau dessen, was uns dient. Jetzt ist kein Diktator mehr zu besiegen. Unsere Energie entlädt sich nicht mehr in Wut und Empörung gegen den Unterdrücker, vielmehr hat sie in möglichst konstruktivem gesellschaftlichem Denken und Handeln die unterschiedlichen Interessen auszugleichen.
    Wenn sich eine Gesellschaft der Unterschiedlichen an die Arbeit macht und Freiheit zu etwas gestaltet, verändert sich die Gesellschaft nachhaltig – nicht nur in ihren Strukturen, sondern auch in ihrem Bewusstsein. Wo einst eine von oben verordnete Uniformität herrschte, existiert nun ein Gemeinwesen, das möglichst vielen Teilhabe, Rechtssicherheit und Wohlstand gewähren soll. Ein Gemeinwesen, in dem häufig konkurrierende Parteien, Lobbyisten, pressuregroups , auch Individuen um Einfluss streiten bei der Ausgestaltung des politischen und gesellschaftlichen Raums, um die Zukunft unserer Länder.
    Manche Menschen fürchten diese Offenheit der westlichen Demokratien. Sie sind sogar bereit, auf Freiheitsrechte zugunsten von Sicherheit zu verzichten. So kannten wir es in der DDR, so kannten es die anderen sozialistischen Transformationsgesellschaften. Deshalb gibt es besonders in diesen Staaten gerade bei Älteren noch ein Gefühl von Fremdheit und Heimatlosigkeit in der neu erworbenen Demokratie.
    Früher dachte ich, die Ferne von Freiheitsliebe und die Furcht vor der Freiheit sei ein spezifisch deutsches Problem.

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