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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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sehen, dass wieder Unterscheidungen, Differenzierungen im öffentlichen Bewusstsein möglich werden. Wir können eigentlich erfreut feststellen: Deutschland glaubt an seine eigene Läuterung. Selbstmitleid und Verdrängung sind in einem jahrzehntelangen Lernprozess überwunden worden. Nachdem es vor der eigenen Schuld nicht mehr geflohen ist, braucht es auch die eigenen Traumata nicht mehr zu verstecken oder einzuhegen.
    Wenn die Vertriebenen nicht aufgehört hätten, »Schlesien ist unser!« zu behaupten, hätte man den Plan, in Berlin ein Museum gegen Vertreibungen zu errichten, nur bekämpfen müssen. Inzwischen aber haben die Vertriebenen, hat die Nation eine menschliche und kulturelle Leistung erbracht und den Verlust zu akzeptieren erlernt. Heute, nach Jahrzehnten der Aufarbeitung, nach der Errichtung eines Mahnmals für unsere Untaten im Zentrum der Hauptstadt, kann der Plan eines Museums gegen Vertreibungen kein Erschrecken mehr auslösen. Hier wird nicht relativiert werden, was an Schuld ewig an unserer Nation hängt. Aber an Verlust und Leiden darf erinnert werden – und ich wiederhole: Wem das erlaubt wird, der wird seinerseits auch eher Empathie für das Leid anderer Völker und Gruppen aufbringen. Klage bedeutet ja nicht Anklage, Trauer intendiert nicht Revanche. Umgekehrt: Wer seiner Trauer Raum gibt, wird auf Rache verzichten.
    V
    Als älterer Deutscher fürchte ich den Stolz der Nationen – auch die dazugehörenden Denkmäler. Zu oft basierte dieser Stolz lediglich auf der Tatsache, zu einer bestimmten Zeit stärker als andere gewesen zu sein, vor allem militärisch. Aber es gibt eine Freude der Davongekommenen, der »gebrannten Kinder«, die ich achte und die sich nicht verstecken soll. Wenn wir also fragen, welche Erinnerungen Europa braucht, dann sind es auch solche, die die geschichtlichen Spuren gewachsener Freiheit nachzeichnen. Natürlich ist die Geschichte Europas geprägt von Kriegen und Interessenkonflikten. Aber ebenso natürlich ist es, dass der, der in seinem eigenen Land Freiheit entbehrt und für Freiheit gekämpft hat, denen nahe ist, die in einem anderen Land für die Freiheit gekämpft haben. Wer »Wir sind das Volk!« rief, sucht geistig nach Menschen und Orten, die Ähnliches verlauten ließen. Dass liberté , égalité, fraternité schon vor über zweihundert Jahren im Nachbarland politisches Programm wurden, gehört eben nicht nur zur französischen und europäischen Politikgeschichte, sondern auch zur Tradition meines gegenwärtigen Verständnisses von Demokratie und Freiheit und damit zum Kernbestand meines Denkens und Gedenkens. Und wenn ich andächtig vor der Urschrift der Verfassung der USA stehe, in der das amerikanische Volk gelobt, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit zu bewahren, dann habe ich es eben nicht nur mit einer fremden Erfahrung zu tun. Ich werde auch immer die »fremde« freiheitliche Gewerkschaftsbewegung Polens als meine ureigene Sache empfinden.
    So dürfen wir hoffen und wollen dafür arbeiten, dass sich neben der Fülle spezieller Erinnerungsgüter von Gruppen und Nationen ein Erinnerungsbesitz aufbaut, in dem nicht die Kriege und Siege von einst und das Gegeneinander dominieren. Wo auch immer in Europa Recht über Unrecht gesiegt hat, wo Menschen Freiheit, Würde, Grundrechte erkämpft haben, wo Friedensschlüsse und Bündnisse oft jahrhundertealte Feindschaft beendet haben, da entstand Erinnerungsgut, auf das sich Menschen ganz unterschiedlicher Nationen in Europa gemeinsam beziehen können. Einen europäischen Verfassungstag können wir noch nicht feiern. Aber immerhin könnten wir die Befreiungstage, die Freiheitsorte, die Monumente der Menschen, die das Humanum in ihrer Zeit bewahrten und förderten, kennenlernen und uns ihre Botschaft zunutze machen. Sie halten doppelten Trost für uns bereit: Kein Unrecht währt ewig. Und: Wir haben die Wahl, uns dem Unrecht zu fügen oder zu widerstehen.
    61 Auszug aus Joachim Gauck, »Welche Erinnerungen braucht Europa?«, in: Europa bauen, den Wandel gestalten, hg. von der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 2006, S. 9–24.
    62 Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung, Hamburg 1994, S. 10.
    63 Ebd., S. 11.
    64 Zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 24. April 2004.

Polen: das Unmögliche wagen
    Universität Lodz, 1. März 2012 65
    I
    Ich war nie in Lodz. Doch Lodz ist in mir, seitdem ich den Roman Jakob der Lügner von Jurek Becker las – jenem Jurek

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