Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Erinnerungsgut »Großer Vaterländischer Krieg«, zu den Opfern, die er forderte, und dem Sieg über den Feind ein Schwerpunkt hinzu, der die Erfahrung von siebzig Jahren Staatsterror hintanstellen oder gar ignorieren und den Opfern sowjetischen Terrors ein zweites Mal Unrecht zufügen würde? Natürlich kann man auch aus fremder Schuld etwas lernen. Die eigentlichen, verändernden Lern- und Entwicklungsschritte beginnen aber bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Wie für uns in Deutschland der Judenmord das »Schwarze Loch« der Geschichte ist, so ist es für die Ex-Sowjetunion deren vergangenes Unrechtssystem.
Es liegt, wie gesagt, auf der Hand, dass die deutsche Nation, die ein Übermaß an Schuld auf sich geladen hat, letztlich nicht ohne die Bearbeitung der »dunklen« Erinnerung gesunden kann. Wie aber sind die Erinnerungswege jener Nationen, die nicht als Täter des NS-Regimes, als Helfer der Unterdrücker, sondern als deren Opfer gelten müssen? Manche Politiker neigen heute dazu, eine »europäische Erinnerung« zu fordern. Aber wie sollte das funktionieren?
Millionen von Opfern kommunistischer Gewalt bleiben bisher ungenannt und weitgehend unbetrauert. All das ist ein großes nationales Thema, ein großes nationales Trauma. Schauen wir auf China oder Kambodscha, so liegen deren Aufarbeitungsschwerpunkte ebenfalls überdeutlich auf der Hand.
Es kennzeichnet die menschliche Psyche, dass sie geprägt wird von dem ganz konkret erfahrenen Schicksal. Insofern werden die Völker das Leid, das sie als Opfer des Kommunismus erleiden mussten, vor allem dann in den Mittelpunkt stellen, wenn es das größte von ihnen erlittene Unrecht darstellt. Wird man diesen Menschen allerdings Empathie und Aufmerksamkeit entgegenbringen, so wird, je weiter sich die Zivilgesellschaft entwickelt, auch der Teil ihrer Geschichte aufgenommen und besprochen werden können, in dem sie Verbündete von Tätern waren. So zumindest erleben wir es beispielsweise in Litauen, Lettland und auch in Polen. Aus Westeuropa hat man Frau Kalniete barsch beschieden, sie solle sich in ihrem Land einmal zuvörderst mit den Helfern der Nazis beschäftigen, die bei der Judenvernichtung mitgewirkt haben. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass Zeiten der Selbstkritik in der Regel eine Zeit der Selbstvergewisserung vorausgeht. Außerdem müssen sich Erinnerung an den eigenen Opferstatus und Zugeständnis eigener Schuld nicht ausschließen – sie verlangen allerdings eine relativ gefestigte Zivilgesellschaft.
Das Einbringen neuer Leidenskapitel und Leidensschwerpunkte in den europäischen Diskurs, vor allem das Einbringen der Erfahrungen Mittel- und Osteuropas mit dem Kommunismus, bedeutet keinen Paradigmenwechsel unserer Erinnerungskultur, wohl aber eine dringend notwendige Paradigmenergänzung. Innerhalb unseres Landes können wir an Orten mit »doppelter Erinnerung« (Buchenwald, Sachsenhausen, Torgau) sehen, wie ein Konflikt zwischen verschiedenen Erinnerungsmilieus aufbrechen, aber auch gelöst werden kann. Hier kann studiert werden, dass Empathie schwer zu erlangen, aber eine beglückende Erfahrung ist. Zu lernen ist: Eine Gedenkkultur, die eigene Leiden aufbewahrt und für die Nachkommen aufbereitet, hat einer anderen Gedenkkultur, die das Gleiche mit »ihren« Opfern tut, mit Respekt zu begegnen und darf nicht versuchen, sie in den Schatten – den Erinnerungsschatten – zu stellen. Es ist nicht hilfreich, eine Hierarchie der verschiedenen Ausprägungen des Bösen zu errichten. Und eine Konkurrenz der Opfer verbietet sich prinzipiell.
IV
Erinnerungen in Europa können auch Konflikte zwischen Gruppen und Großgruppen auslösen, wenn sich bereits gefestigte Selbst- oder Fremdbilder verschieben. Wir haben den Konflikt mit Polen erlebt, als in den letzten Jahren in Deutschland ein lange vernachlässigtes Erinnerungsgut wieder aufgetaucht ist: Deutsche als Opfer. Nach jahrzehntelanger Bearbeitung der deutschen Schuld tauchten Bombenkriegsopfer, Flüchtlinge und Vertriebene wieder auf.
Reflexartig wurde auch bei dieser Entwicklung die Warnung vor einer Relativierung der deutschen Schuld vorgebracht, für mich eine inzwischen überflüssige Sorge. Sehen wir einmal von den Mitgliedern der rechtsextremen Szene ab, so war nicht zu erkennen, dass die Erinnerung an deutsches Leid wie einst in der Nachkriegszeit eine Relativierung der deutschen Schuld bewirken sollte. Vielmehr dürfen wir es als ein Zeichen geistiger und emotionaler Reife
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