Nicht lecker, aber Weltrekord
Rückbank aus ihre Eindrücke von der Umgebung schildert.
»Mein Gott, was sehen die hier alle alt aus!«, ruft sie bei geöffnetem Fenster zwei pferdeärschigen Matronen hinterher.
»Vielleicht sind sie ja alt«, schlägt meine Schwester vor. Meine Mutter schüttelt den Kopf: »Nein, sind sie nicht. Das sieht man. Am Hals.«
Im Rückspiegel beobachte ich, wie sie sich an den eigenen packt, die Jahresringe durchzählt und schlussfolgert: »Die waren höchstens so alt wie ich. Die altern hier auf dem Land einfach schneller. Und dann noch diese grausigen Klamotten, unfassbar!«
Als amtlich beglaubigte Stil-Ikone des Münsteraner Kreuzviertels weiß meine Mutter, wovon sie spricht. Sie ist selbst auf dem Land aufgewachsen. Bis sie sechs wurde, hat sie auf dem Dorf gewohnt, von dem sie nur in linearer katholischer Abscheu spricht: Fegefeuer, Vorhölle, Ostbevern. Sie hat sich da mühsam rausgekämpft,aus dem Sumpf und der Armut – wie eine Dolly Parton ohne Titten.
Meine Mutter hasst das Landleben, will aber auf ein kleines Stück Natur nicht verzichten. Sobald mein Schwager unter ihrer Anweisung die von ihr ausgesuchten Rosenbüsche eingepflanzt hat, kann sie wieder nach Hause fahren, diese Aussicht hält uns alle drei davon ab, aus dem fahrenden Auto zu springen. Das vorbeiziehende platte Land scheint jedoch Erinnerungen in ihr zu wecken, der große Ostbevern-Koller steht bevor, meine Schwester und ich schalten auf Dalmatiner-Modus und lassen sie reden.
»Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, wie das war! Die Pfaffen haben einen ja im Beichtstuhl mit Namen angesprochen, schrecklich war das. Diese Weiber in ihren Kitteln! Ich habe ja bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr gar keinen Mann zu Gesicht bekommen! Als ich das erste Mal Aftershave gerochen habe, bin ich ja gleich ohnmächtig geworden.«
Meine Schwester und ich nicken ergeben. Die Geschichte hat mein Vater bestätigt. Er hat meine Mutter noch auf die klassische Art erobert, mit einem halben Liter Old Spice, dem Rohypnol der Sechzigerjahre.
Mein Mutter setzt noch einen drauf: »Als euer Vater mal vorschlug, wir sollten aufs Land ziehen, da habe ich gesagt: ›Mach doch, aber ohne mich!‹ Da hat er natürlich Angst bekommen und ist dageblieben.«
Meine Schwester und ich seufzen erleichtert. Zwar hatten wir diese Wendung in der Geschichte schon deshalb vorausgesehen, weil wir unseren Vater in unserenersten achtzehn Lebensjahren stets nach Schulschluss in unserer schönen Stadtwohnung vorgefunden haben, aber es beruhigt dennoch ungemein, diese subjektiven Wahrnehmungen noch einmal bestätigt zu bekommen.
»Jedenfalls, für mich wäre das hier ja nichts«, schließt unsere Mutter seufzend ihren Vortrag.
Meine Schwester trommelt auf das Lenkrad, doch sie dreht nicht durch. In Dollerup hat sie eine gewisse Bauernschläue entwickelt und festgestellt, dass Rache ein Gericht ist, das am besten als Snack zwischendurch gereicht wird.
»Oh, guckt mal, da bin ich doch glatt am fünften Gartencenter vorbeigefahren, wir sind zu Hause, na so was!«
Blitzschnell steigt sie aus, und ihr echter Dalmatiner rennt auf sie zu, überschlägt sich fast vor Freude und purzelt über den Rasen. Gegen den habe ich keine Chance, denke ich. Die Flecken bekäme ich noch hin, aber nicht das Hochspringen.
Meine Mutter sieht lächelnd aus dem Fenster: »Och, Tinka, guck mal, ist das nicht süß? Ich glaube, für deine Schwester ist das genau das Richtige hier. Das ist doch schön, da freue ich mich aber für sie.«
»Dann sag ihr das doch mal«, empfehle ich meiner Mutter. Sie grinst.
»Wo bliebe da der Spaß?«, fragt sie zurück. »Die soll sich mal schön freuen, wenn wir heute Abend wieder weg sind, aber so richtig. Das finde ich ja immer das Schönste, wenn ihr uns besuchen kommt. Das ist so gemütlich, wenn ihr wieder weg seid, herrlich!«
Mit diesen denkwürdigen Worten steigt meine Mutter aus dem Auto, lächelt und ruft meiner Schwester zu:
»Die Einfahrt wollt ihr aber nicht so lassen, oder?«
Sie dreht sich noch einmal zu mir um und zwinkert.
Der Dalmatiner wetzt über die Wiese, im Maul trägt er etwas, was verdächtig nach der Cashmere-Strickjacke meiner Mutter aussieht. Und dieses Mal fällt es mir schwerer als je zuvor, herauszuhören, ob meine Schwester diese Aktion mit dem Wort »Fein« oder »Nein« bewertet, so laut schreit meine Mutter. Na ja, egal. Hauptsache, der Hund lernt irgendwann den Unterschied.
Rendezvous
Noch zweiundsiebzig Tage bis zu meinem
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