Nicht ohne dich
du.«
Agnes nahm mich mit ins Badezimmer und färbte mir die Haare. Anschließend saß ich bei Mama im Schlafzimmer und wir unterhielten uns, bis es Zeit zum Aufbruch war. Sie beteuerte immer wieder, nichts könne sie davon abhalten, nach Schweden nachzukommen, und ich sagte: »Ja, Mama, ich weiß.« Dabei war uns beiden klar – auch wenn wir es nicht aussprachen –, dass es so viele Dinge gab, die es verhindern konnten.
Bei meinem letzten Blick auf sie, wie sie auf dem Bett saß und ein tapferes Gesicht machte, zerriss es mich innerlich fast.
»Pass auf sie auf«, bat ich Agnes, als wir hinausgingen.
»Das mache ich«, versprach sie.
Ich sagte mir, besser aufgehoben als Mama konnte man in diesen Zeiten kaum sein. Und Agnes hatte einen Keller, falls es Luftangriffe gab, und ein kleines Versteck, in dem Mama ausharren konnte, falls die Polizei kam. Emmi und ihre Mutter hatten sich dort einmal versteckt. Und Frau Dr. Fink war eine gute Ärztin und hatte gesagt, Mama sei auf dem Wege der Genesung.
Agnes nahm meine Hand und sagte: »Du tust das Beste, was du für sie tun kannst. Glaub mir. Ich bin auch Mutter, ich weiß das.«
Ich brachte kein Wort heraus. Während ich den Weg entlangging, dachte ich die ganze Zeit: Es ist falsch, das dürfte nicht sein. Muffi winselte und zerrte an der Leine, sie wollte zurück.
Wir mussten bis zur zehn Kreuzungen entfernten Kleestraße laufen und dort, so hatte Agnes gesagt, bei der Hausnummer sechzig klingeln. Wir hatten kein Gepäck dabei, aber einen Teil des Geldes, das Onkel Hartmut uns gegeben hatte. Von seinen Reichsmark war auch mein Flugticket bezahlt worden – Mama hatte darauf bestanden – und den Rest hatte sie behalten. Emmi drückte den Teddy an sich, den sie nachts mit ins Bett nahm – ein ernst dreinschauendes Tier, das brummte, wenn man es kippte; allerdings klang das eher wie das Blöken eines Schafs. Der Bär hieß Bernhard. Ihre andere Hand schob sie in meine und so liefen wir nervös die immer dunklere Straße entlang. Muffi gab es auf, uns zurückzuzerren und hob das Bein an einem Laternenpfahl.
»Ich bin schon ein ganzes Jahr nicht vor der Tür gewesen«, flüsterte Emmi mir zu.
»Emmi«, raunte ich zurück, »solche Sachen darfst du nicht sagen.«
»Tut mir leid.«
Aber auch mich überkam hier draußen, wo niemand mir Anweisungen gab, ein mulmiges Gefühl. Ich dachte: Immer komme ich raus und andere bleiben zurück. Erst Erna und Luise, jetzt Mama.
Das Haus war genauso groß wie das von Onkel Hartmut. Ein Tor gab es aber nicht, es war wohl eingeschmolzen worden, für den Krieg. Wir gingen den schmalen Weg hinauf und klingelten. Eine stämmige, weißhaarige Frau öffnete die Tür. Frau Ulrich, die uns für diese Nacht beherbergen sollte. Sie legte lächelnd den Arm um mich. »Willkommen.«
Dann führte sie uns in ein Wohnzimmer voller Antiquitäten. Die Verdunklungsrollos waren bereits herabgelassen, die Vorhänge zugezogen. Und Raffi war da.
Er trug den Pullover, den ich ihm gestrickt hatte. Das war das Einzige, was mir auffiel, bevor Muffi begann verrücktzuspielen. Ich stand da und sah zu, wie sie an ihm hochsprang und jaulte und sich auf den Rücken warf, um sich den Bauch kraulen zu lassen, und dachte dabei: Wir hätten wissen müssen, dass sie sich so aufführen würde. Als unsere Augen sich begegneten, sah ich, dass er genau wie ich fast durchdrehte vor Freude. Er nahm Muffi hoch und sagte: »Was für ein zutraulicher Hund.«
Frau Ulrich lächelte ausdruckslos. »Sie ist euer Hund«, sagte sie, um Muffi und Raffi in die Geschichte einzuspinnen, die wir über uns erzählen mussten. Emmi sah von Raffi, der Muffi auf dem Arm hielt, zu Frau Ulrich und presste die Lippen fest aufeinander. Sie wusste, dass sie keine Fragen stellen durfte. Doch ich konnte den Blick nicht von Raffis Händen abwenden, die Muffi streichelten, es war, als könnte ich diese Hände auf meiner Haut spüren. Als er den Kopf beugte und Muffis Köpfchen küsste, spürte ich seine Lippen auf meinem Haar, und ich wusste, dass er Muffi so küsste, weil er eigentlich mich küssen wollte, aber nicht durfte.
»Na dann«, meinte Frau Ulrich. »Wisst ihr noch, wer ihr seid?«
»Axel Andersen«, antwortete Raffi und setzte Muffi ab. Sie blieb, hechelnd und schwanzwedelnd, neben ihm stehen.
»Helga Andersen«, sagte ich.
»Inga Andersen«, erklärte Emmi.
»Es ist schön, jüngere Schwestern zu haben«, bemerkte Raffi und schüttelte uns beiden die Hand – meine
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