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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
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hielt er eine Spur länger als nötig. »Du bist sehr dünn, Helga Andersen. Und wer hat dir die Haare geschnitten?« Seine Stimme klang besorgt.
    »Mir geht es gut«, versuchte ich ihn zu beruhigen.
    »Kommt, wir essen zu Abend«, sagte Frau Ulrich. »Damit du was auf die Rippen bekommst.«
    Das Essen war gut, aber längst nicht so üppig wie bei Onkel Hartmut. Sie beauftragte uns, gemeinsame Kindheitserinnerungen zu erfinden. »Nicht nur wegen der Polizei, ihr müsst euch im Flugzeug auch unterhalten, und das ist noch deutsches Hoheitsgebiet, ihr fliegt nämlich mit der Lufthansa.«
    »Als du ganz klein warst«, erzählte Raffi Emmi, »hast du mich immer Attel genannt.«
    »Es ist ein Glück für sie, dass du so viel älter bist«, sagte ich zu ihm. »Sonst hättest du ihrem Bären den Pelz rasiert wie meiner Puppe die Haare.«
    »Heidi«, sagte Raffi und grinste in Erinnerung an meine Puppe Heidi, die, nachdem er mit ihr fertig gewesen war, tatsächlich vom Puppendoktor neue Haare bekommen musste. Erst dann fiel mir die Frau ein, die mir in Ravensbrück die Haare geschoren hatte. Mir war, als täte sich in mir ein Abgrund auf, und ich brachte kein Wort mehr heraus.
    Raffi merkte es und seine Stirn zog sich in Falten, aber er begann Geschichten über unser Hausmädchen Anna zu erzählen, über die Torten, die sie uns zum Geburtstag gebacken hatte, mit Schokoladenguss und Mandelstacheln, sodass die Torte aussah wie ein Igel. Solche Torten hatten wir, Karl, Raffi und ich, als Kinder tatsächlich zum Geburtstag bekommen. Raffi lächelte mich an und hob eine Augenbraue, um mich aufzuheitern. Ich lächelte zurück, damit er beruhigt war. Ach, hätte ich mich doch in seine Arme werfen können!
    Stattdessen arbeiteten wir gemeinsam die Geschichte des Luftangriffs aus – wie unser Haus zu brennen angefangen hatte und wir die Möbel hinausgeschafft hatten, wie dann aber die Treppe eingestürzt war und meinen Vater unter sich begraben hatte, und wie ein glühendes Holzstück mein Haar in Brand gesetzt hatte. Axel hatte es gelöscht, aber es war so stark versengt gewesen, dass man es fast ganz abschneiden musste.
    »Anna ist auch bei dem Angriff umgekommen, nicht wahr?«, soufflierte Frau Ulrich.
    Ich merkte, dass es besser war, die Geschichte so zu erzählen. Nur für den Fall, dass irgendjemand versuchte, sie ausfindig zu machen. Unsere Legende musste auch noch wasserdicht sein, nachdem wir Berlin verlassen hatten, und zwar wegen der Menschen, die dortblieben und uns geholfen hatten.
    Wir sprachen Deutsch, obwohl wir schwedische Staatsangehörige waren. Wir hatten in Berlin eine deutsche Schule besucht. Unser Vater hatte versucht, uns Schwedisch beizubringen, aber wir hatten uns nie ernsthaft bemüht, es zu lernen.
    »Ich weiß noch ein paar Worte«, sagte Raffi, »aber nicht viele.«
    Ich konnte mir vorstellen, dass er tatsächlich ein paar Brocken Schwedisch konnte, fragte aber nicht, woher. Das hatte Zeit bis später.
    Nach dem Abendessen zeigte Frau Ulrich Emmi und mir unsere Koffer. Sie waren nicht neu, aber schick – aus edlem Schweinsleder. Nicht mal Tante Grete hätte sie verschmäht. Darin befanden sich neue Kleider. Emmi und ich standen in dem Zimmer, in dem ich schlafen sollte, und probierten die Sachen vor dem Spiegel in der Tür des großen Schrankes an. Die meisten passten, bis auf zwei Röcke, die mir in der Taille zu weit waren. »Behalt sie trotzdem«, sagte Frau Ulrich. »Ich hoffe ja, du nimmst ein bisschen zu.« Nur ein einziges Kleid würde Emmi zurücklassen müssen, da es ihr zu klein war.
    Wir hatten auch gute, dicke Mäntel, aus Wolle und Kaschmir, warm genug für Schweden, sowie warme Mützen. Die Sachen, in denen wir gekommen waren, mussten wir alle dalassen. Emmi durfte Bernhard behalten, mehr nicht.
    Ich fragte nicht, woher die Kleider stammten. Auch das würde ein Geheimnis bleiben.
    Anschließend schickte Frau Ulrich Emmi ins Bett und nahm mich mit nach unten, wo wir zusammen mit Raffi im Wohnzimmer Kaffee tranken. Sie wollte, dass wir uns noch mehr Vergangenheitsgeschichten ausdachten, aber ich war wirklich müde. Ich fühlte mich niedergeschlagen, weil ich Mama verlassen hatte, und sehnte mich nach Raffis Armen. Ich wollte nicht mehr so tun, als sei ich seine Schwester. Frau Ulrich drängte mich nicht, als ich verstummte. Schweigend trank ich meinen Kaffee, während Raffi sich mit Frau Ulrich über Architektur unterhielt – offenbar wollte auch Axel Andersen Architekt werden.
    Dann

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