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Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
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unwillkürlich zu zittern. Als ich die Mütze abstreifte, sah ich, wie ihre Augen ganz groß wurden. »Was ist mit euch passiert, Jenny?«, fragte sie.
    Da erzählte ich ihr von der Verhaftung und dem Lager und von Onkel Hartmut, der uns erst nach Berlin geholt und dann wieder hinausgeworfen hatte.
    »Ich bin froh, dass ihr zu mir gekommen seid«, sagte sie.
    Diesmal führte sie uns in die Küche. Hier hingen die gleichen dicken Spitzenvorhänge wie im Wohnzimmer. Ein etwa siebenjähriges Mädchen stand neben dem Holztisch und umklammerte das Ende eines seiner braunen Zöpfe. Ihre Augen waren aufmerksam und voller Hoffnung, bis sie uns sah. Dann machte sie ein langes Gesicht.
    »Das sind Freunde von mir, Emmi«, sagte Agnes Hummel.
    »Ich dachte, es wäre Mama …«, entgegnete das Mädchen.
    Agnes Hummel legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich weiß«, sagte sie.
    Sie bereitete für uns beide Lindenblütentee in dem silbernen Kännchen zu und schenkte ihn in die Tassen mit dem Rosenmuster, die aussahen wie die von Tante Edith. Der warme, duftende Tee ließ mich ruhig werden. Sie sagte, sie werde einen Arzt für Mama kommen lassen – aber erst ein wenig später. Sie werde das in die Wege leiten, wenn sie einkaufen ging. Dann stellte sie uns Emmi vor, eine Jüdin – aber das hatte ich bereits erraten.
    Emmi sagte: »Mama und ich haben ein halbes Jahr hier gewohnt, aber dann ging Mama eines Tages für ihre Herrin einkaufen und kam nicht mehr zurück.«
    Agnes Hummel erklärte: »Emmis Mutter hat bei einer guten Freundin von mir geputzt.«
    »Aber dann gab es einen Luftangriff«, sagte Emmi unglücklich. Sie hatte graugrüne Augen, wie Mama und ich. Genau in dem Moment, als ich es bemerkte, fiel es auch Agnes Hummel auf, das konnte ich sehen. Aber sie sagte nichts dazu.
    Muffi lief zu Emmi und beschnupperte sie. Als Emmi sich bückte und sie streichelte, sah sie ein bisschen fröhlicher aus.
    »Wo sind seine Augen?«, wollte sie wissen.
    »Sie ist ein Mädchen«, erklärte ich. »Wenn du die Zotteln beiseiteschiebst, findest du ihre Augen.«
    Mama setzte ihre Teetasse ab. »Frau Hummel«, krächzte sie, »was sollen wir bloß tun?«
    »Sagen Sie doch einfach Agnes zu mir.«
    »In Ordnung. Ich bin Sylvia«, erwiderte Mama.
    »Ihr werdet hier bei mir bleiben. Du wirst dich ausruhen und genesen. Und ihr sollt euch beide keine Sorgen machen.«
    Ich sagte: »Wir haben keine Lebensmittelmarken, aber in dieser Tasche ist Essen.«
    Wir packten alles aus. Minna hatte uns Käse, Butter, Eier, einen Laib gutes Brot, ein schönes Stück Wurst und ein Glas Apfelmus mitgegeben. Außerdem ein Päckchen Kaffeebohnen und einen Knochen für Muffi.
    »Ein Festessen«, sagte Agnes Hummel lächelnd. »Habt ihr schon gefrühstückt?«
    »Ja.« Ich wollte ihr nicht zu viel wegessen. Wer wusste schon, wie lange wir hier bleiben würden?
    Aber sie sagte, sie habe gute Schwarzmarktbeziehungen. Ich gab ihr einen Teil der Reichsmark, die uns Onkel Hartmut zum Abschied mitgegeben hatte, und dachte dabei, wie glücklich er sich schätzen konnte, dass wir bei jemandem untergekommen waren. Mama hustete unentwegt. Agnes steckte sie ins Bett und zeigte mir, wo der Lindenblütentee aufbewahrt wurde. Sie hatte die Blüten im vergangenen Mai selbst von dem Baum in ihrem Garten gesammelt. Bevor sie sich auf den Weg machte, mussten Mama und ich auf ihre Anordnung hin Apfelmus essen.
    »Ihr müsst wieder zu Kräften kommen«, erklärte sie.
    Muffi war für Emmi ein Geschenk des Himmels. Es machte ihr großen Spaß, Dinge fallen zu lassen, damit Muffi sie aufhob, und einen Ball zu werfen, den sie apportierte. Schließlich legte Muffi sich hin und ignorierte sie. Ich musste Emmi erklären, dass Hunde genau wie Menschen müde werden. Daraufhin wollte Emmi Muffi den Knochen geben, damit sie darauf herumkauen konnte, aber ich sagte, wir würden warten, bis sie wirklich Hunger hatte. Minna hatte ihr an diesem Morgen reichlich zu fressen gegeben. Es erschien mir ganz unwirklich, dazusitzen und mit einem Kind zu plaudern, anstatt mich im Lager bei der Zwangsarbeit krummzulegen. Ich dachte an Luise und Erna, die auch heute wieder im Kuhstall schufteten und sich sicher fragten, was mit mir geschehen war. Vielleicht glaubten sie, die Gestapo hätte mich zu weiteren Verhören abgeholt. Die Grendel und die Kerner würden ihnen niemals erzählen, dass ich entlassen worden war. Wenn ich doch bloß irgendetwas hätte dafür tun können, dass auch sie

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