Nicht ohne dich
freikamen.
»Spielen wir Mensch-ärgere-dich-nicht«, bat Emmi. Ich wollte gerade einwenden, ich sei zu müde, doch da brachte eine Windbö draußen irgendetwas zum Klappern. Sie fuhr herum in der Hoffnung, ihre Mutter sei gekommen, und starrte Richtung Tür. Dann wich der hoffnungsvolle Ausdruck aus ihrem Gesicht und sie blickte verloren drein. Schnell willigte ich ein. »Ja, spielen wir.« Nachdem wir eine Weile gespielt hatten, fragte ich, wie lange sie schon da sei.
»Ein Jahr«, sagte sie, während sie würfelte. »Agnes ist wirklich nett.«
»Ist nach Weihnachten ein blonder Junge hier gewesen?« Mir war klar, dass ich das nicht hätte fragen sollen, aber ich konnte nicht anders.
Sie schüttelte den Kopf. Dann fragte sie mit ganz leiser Stimme: »Jenny, meinst du, sie haben Mama geschnappt?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete ich.
»Es ist schrecklich, wenn man sich immer wieder fragt …«, erklärte sie.
»Ja«, bestätigte ich. »Das kann ich mir vorstellen.«
Agnes kam mit einem schweren Einkaufskorb zurück. Während sie auspackte, erzählte sie: »Nach Einbruch der Dunkelheit kommt Frau Dr. Fink. Wie geht es deiner Mutter?«
»Sie hat geschlafen.«
Nach dem Mittagessen – Gemüsesuppe und Minnas Brot – sollte ich ebenfalls ruhen. Ich war auch richtig müde. So legte ich mich neben Mama und schlief wie eine Tote.
Frau Dr. Fink war forsch und unpersönlich, aber freundlich. Sie erklärte, Mama habe eine Bronchitis, und verschrieb ihr Bettruhe und reichlich Trinken. Dann bestand sie darauf, auch mich zu untersuchen – »nach allem, was du durchgemacht hast«. Ich sei gesund, meinte sie, doch ich müsse wieder zu Kräften kommen. »Nicht zu viel auf einmal essen«, riet sie. »Lieber wenig und öfter. Das gilt für euch beide.«
Ich nickte. Mama wollte sie bezahlen, doch sie schüttelte den Kopf. »Das ist das Mindeste, was ich tun kann.« Unten versprach sie Agnes und mir: »Ich sehe morgen wieder nach Frau Friedemann.« Damit schloss sie ihre Tasche und ging.
Ich meinte zu Agnes: »Sie hat nicht gesagt, dass Mama wieder gesund wird. Was ist, wenn sie eine Lungenentzündung bekommt?« Mir war selbst ganz eng in der Brust vor Angst, ich bekam gar nicht richtig Luft.
Agnes schloss mich in die Arme und sagte: »Sie ist eine gute Ärztin und wird bestimmt dafür sorgen, dass deine Mutter gesund wird. Mach dir keine Sorgen.«
Zwei Tage später erklärte Agnes, als sie von einem ihrer Besorgungsgänge zurückkam: »Ich will mit euch allen sprechen.«
Sie setzte Wasser auf und machte Lindenblütentee für Mama. Dann gingen wir hinauf ins Schlafzimmer. Mama musste immer noch liegen, aber Frau Dr. Fink war zufrieden mit ihren Fortschritten. Der Husten sitze jetzt weiter oben. Ich ging immer wieder zu Mama hinauf, wie um mich zu vergewissern, dass sie wirklich da war. Dann umarmten wir einander und sie strich mir übers Haar.
Agnes gab Mama ihren Kräutertee. Emmi und ich setzten uns aufs Bett und Agnes nahm auf dem Stuhl Platz. Sie sagte: »Dass ihr beide hier aufgetaucht seid, war wie ein Geschenk für mich.«
»Und Muffi«, sagte Emmi. Muffi saß direkt zu ihren Füßen auf dem Boden.
»Ja.« Agnes lächelte sie an. »Ihr drei. Emmi, ich habe die Hoffnung für deine Mutter nicht aufgegeben, aber du musst raus aus Deutschland und in Schweden auf sie warten. Ich hoffe, dass Jenny mit dir gehen wird.«
»Aber ich kann doch nicht …«, hob Emmi an.
»Emmi«, unterbrach Agnes, »deine Mutter wird froh sein, wenn du in Sicherheit bist.«
Emmi wurde ganz still und vergrub die Finger in Muffis Fell. Ich aber war plötzlich atemlos vor Panik.
»Ich allein?«, fragte ich. »Und was ist mit Mama?«
»Ich fürchte, Sylvia kann nicht mit euch reisen, Jenny. Erstens werdet ihr fliegen, und dazu ist ihr Gesundheitszustand nicht stabil genug …«
»Mama alleine hierlassen? Das bringe ich nicht fertig«, lehnte ich ab.
»Doch, das schaffst du«, erklärte Mama rasch.
»Jenny, bitte hör mir einen Augenblick zu«, bat Agnes. »Du hast die gleiche Augenfarbe wie Emmi, du kannst als ihre Schwester durchgehen. Euer Vater war ein schwedischer Geschäftsmann, der in Berlin gelebt hat, und ihr habt die schwedische Staatsangehörigkeit. Eure Mutter ist bei Emmis Geburt gestorben, und euer Vater kam vor einem Monat bei einem Luftangriff ums Leben. Jetzt zieht ihr zu euren Verwandten nach Schweden. Emmi, du hast wirklich Verwandte in Skandinavien, nicht wahr?«
Emmi nickte. »Meine Cousins. Früher
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