Nicht ohne dich
Muffi hielt mit gefletschten Zähnen Wache und knurrte. Brenner gab immer noch nicht auf. Raffi hatte seinen Kopf nicht heftig genug gegen die Wand geschlagen.
Raffi rief mir etwas zu. Die Bomber übertönten seine Worte, aber ich wusste, was er wollte. Nämlich, dass ich Brenner erschoss. Und es musste schnell gehen, denn Brenner versuchte sich mit dem anderen Arm hochzustemmen und Raffi abzuschütteln. Ich war nicht sicher, ob Muffi ihn noch einmal beißen würde, eigentlich war es gegen ihre Natur, Menschen zu beißen – selbst solche wie Brenner. All das ging mir durch den Kopf, denn das ganze Geschehen schien wie in Zeitlupe abzulaufen. Angesichts dessen, was ich tun würde, stieg erneut Übelkeit in mir hoch, aber ich beugte mich hinunter und zielte auf Brenners Schädel.
Raffi rang noch immer mit Brenner, schaffte es aber trotzdem, den Kopf zu schütteln. Ich begriff. Er wollte nicht, dass wir beide mit Brenners Hirn besudelt würden. Ich musste ihn in den Rücken schießen.
Ich kauerte mich nieder, drückte die Waffe auf Brenners sich windenden Rücken direkt zwischen die Schulterblätter – der Lauf berührte beinah Raffis Knie – und dachte dann in einer Art Zeitlupe, die alles, sogar die amerikanischen Flugzeuge, ausblendete: Ich schaffe das nicht. Ich kann keinen Menschen töten. Trotz allem, was Brenner mir angetan hatte – als ich seine Muskeln spürte, sein Leben, das zu beenden in meiner Hand lag, erschien es mir zu furchtbar.
Doch dann sah ich Raffis Gesicht, die hervortretenden Adern auf seiner Stirn, und plötzlich stieß Brenner heftiger um sich, Raffi konnte ihn nicht mehr halten. In diesem Durcheinander fand mein Finger, wie mir schien, ganz ohne mein Zutun den Abzug, und der Rückstoß schüttelte mich. Ich spürte sein letztes Aufbäumen und wie er ganz schlaff wurde, als das Leben aus ihm wich.
Raffi stand auf. Brenners braun gestreifter Anzug war blutbefleckt, auch aus seinem Mund sickerte Blut und rann als kleiner roter Schwall über einen zerbrochenen Ziegel, um dann an die Wand zu spritzen und die daran klebenden Streifen verkohlter Tapete rot zu färben. Muffi wich vor der Leiche zurück, immer noch knurrend. Raffi legte seinen Mund an mein Ohr und flüsterte: »Komm, weg von hier.«
Ich wusste, dass ich die Waffe loswerden musste, und schleuderte sie in das Loch im Boden. Sie schlug etwa zehn Zentimeter vom Rand auf dem Griff auf, drehte sich und war dann in der Dunkelheit verschwunden. Raffi nahm meine Hand und zog mich fort.
Erst als wir durch das Loch in der Hausmauer hinauskletterten, fiel mir ein, dass ich vielleicht blutbefleckt war. Ich sah an mir hinunter, aber da war nichts. Raffi wandte den Kopf zu mir und hob die Augenbrauen. Ich flüsterte ihm ins Ohr: »Ich muss dich nach Blut absuchen.« Er nickte. Nur an seiner Hand fand ich einen kleinen Spritzer, den ich mit meinem Taschentuch abwischte. Anschließend warf ich es weg. Ich hatte das albtraumhafte Gefühl, gar kein richtiger Mensch mehr zu sein.
Emmi saß auf einem der Koffer, schaukelte, Bernhard an sich gedrückt, vor und zurück und weinte immer noch. Sie brauchte jetzt Trost, das wusste ich, und so schloss ich sie in die Arme. »Alles in Ordnung!«, rief ich. »Er ist weg.«
Sie stand auf, ohne den Versuch, irgendwelche Fragen zu stellen. Wir nahmen unser Gepäck – Raffi trug diesmal auch meinen Koffer, und ich hielt Emmi an der Hand. Wir gingen den Weg zurück, den wir gekommen waren, und steuerten mitten im Luftangriff die U-Bahn-Station an. Zwar fielen keine Bomben in unserer Nähe, aber der Boden bebte, und weiter vorn brach eine Mauer in sich zusammen. Nicht einmal das machte mir Angst. Als wir den Bahnhof Mehringdamm erreichten, ertönte die Entwarnung. Offenbar waren es nur ein paar wenige Flugzeuge gewesen, die umgedreht und noch mehr Bomben abgeworfen hatten, vielleicht, um Gewicht loszuwerden und so schneller von den Jagdflugzeugen der Luftwaffe wegzukommen, die sie verfolgten.
Wieder waren wir auf dem Weg zum Flughafen, fast, als hätten wir einen Zeitsprung gemacht, als würde Brenner nicht ganz in der Nähe mit einer Kugel im Rücken liegen, die ich dort hinbefördert hatte. Aber nur fast. Es fühlte sich immer noch alles ganz unwirklich an.
Um fünf vor halb zwei erreichten wir Tempelhof. Der Flughafen stand noch, aber unser Flug würde wegen des Luftangriffs mit großer Verspätung starten, wir hatten also jede Menge Zeit. Im Flughafengebäude gab es eine Bar, in der Raffi für
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